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Lessings Preisträger

Blinder Fleck im "Nathan" und  Fund in der Familienchronik: Marcel Beyers Rede zeigt Schmerzstellen. 

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Wurden in Kamenz ausgezeichnet: Die Schriftsteller Anja Kampmann, Marcel Beyer und Bettina Wilpert (v. l.).
Wurden in Kamenz ausgezeichnet: Die Schriftsteller Anja Kampmann, Marcel Beyer und Bettina Wilpert (v. l.). © Matthias Schumann

Das war knapp. Fünf Tage vor der Preisverleihung in Kamenz stockte das sächsische Kabinett das Preisgeld auf, und das kam nun gleich den drei Ausgezeichneten am Wochenende zugute. Statt 13 000 sind jetzt 20 000 Euro mit dem Namen Lessing verbunden. Er steht damit auf einem vorderen Platz auf der langen Liste literarischer Lorbeerkränze, noch vor Heinrich Mann, Jean Paul und der Droste. So gehört sich das für einen Autor, der an die Vernunft im Menschen glaubte, der fein spöttische Rezensionen schrieb und frische Luft in das deutsche Schauspiel brachte. Gotthold Ephraim Lessing, am 22. Januar 1729 in Kamenz geboren, ging als Zwölfjähriger aus der Stadt fort in die Fremde. Was wäre, wenn er heute zurückkäme? Würde man ihn herzlich begrüßen oder würde man auf sein Wohnhaus schießen?

Mit diesem leicht absurden Gedankenspiel befasst sich der Schriftsteller Marcel Beyer. Der 53-Jährige wurde am Sonnabend im Kamenzer Ratssaal mit dem Hauptpreis in Lessings Namen geehrt. Seine Dankrede ist ein Zopf, aus drei Strängen geschickt geflochten. Da geht es um den weisen Juden aus Lessings letztem Drama, um ein Erlebnis im Kloster Panschwitz-Kuckau und um eine überraschende Entdeckung in der eigenen Biografie. Am Ende hat eines mit dem anderen zu tun, vor allem aber mit der politischen Realität im Land. Denn Beyer ist nicht nur der Poet, wie ihn der Konzeptkünstler Olaf Nicolai in seiner würdigend-wirren Zitatencollage in Kamenz beschreibt. Er ist auch ein scharfsinniger Essayist. Er sucht die Störmomente unter der Oberfläche und das Unbekannte im Vertrauten. So stößt er auf einen blinden Fleck in „Nathan der Weise“.

Rätselhafter Hausbrand

Nathan kehrt von einer Handelsreise zurück und erfährt, dass sein Haus gebrannt hat, dass ein christlicher Tempelherr seine Adoptivtochter Recha aus dem Feuer holte und keinen Dank will für die Rettung eines Judenmädchens. Beyer fragt: „Über die Brandursache aber wird kein Wort verloren? Ein Blitzeinschlag? Ein außer Kontrolle geratenes Herdfeuer? Habe ich etwas überlesen? Und mich zugleich seit meiner Schulzeit nie gefragt, ob ich hier etwas überlesen habe?“

Die Ursache des Brandes wird beschwiegen, meint Beyer, weil „man“, über „solche Dinge“ nicht spricht, weil ohnehin jeder Bescheid weiß, und weil die Gefahr eines neuerlichen Brandes nicht aus der Welt wäre. Das ist für ihn der blinde Fleck im Drama – und Nathan ein Traumapatient. Denn schon einmal stand ein Haus des Juden in Flammen. Seine Frau und sieben Söhne kamen in dem Feuer um, das der Mob im Schutz der Dunkelheit gelegt hatte. Das, sagt Marcel Beyer, muss Nathan verdrängen um des eigenen Überlebens willen.

Scheinbar übergangslos erzählt Beyer dann von einem Sonntag im Klosterhof Panschwitz-Kuckau, wo er zwischen Einheimischen auf die Osterreiter wartete und beiläufig einen Satz aufschnappte: „Aber wenigstens hier ist der Ausländeranteil ja relativ gering.“ Jetzt fragt er in seiner Kamenzer Dankrede, wer hier als Ausländer gilt. „Ist Ausländer jemand, der eine zweite Sprache beherrscht? Jemand, der eine andere Sprache als das Deutsche zur Muttersprache hat? Sind Sorben Ausländer in der Oberlausitz? Und Deutscher ist, wer junge Sorben jagt? Ist Deutscher, wer Kruzifixe entwendet, wer sorbischsprachige Ortsschilder mit einem Davidstern übermalt? Ist Deutscher, wer einen Waffenschrank besitzt, auf dem in Großbuchstaben Heimat steht?“

Ins Herz geschnitten

Marcel Beyer bezieht sich auf aktuelle antisorbische Straftaten, er spitzt zu und verallgemeinert, das gefällt nicht jedem im Kamenzer Ratssaal. Hier und da gibt es ein Kopfschütteln, als Beyer fragt, ob Lessing heute geschnitten würde, wenn er als Fremder in die Stadt käme. Ob auf sein Haus geschossen würde, wenn Sorben zu seinen engsten Freunden zählten. „Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve“, so zitiert Marcel Beyer die Erzieherin der geretteten Recha.

Zum Preisgeld gibt es eine Porzellanmedaille. 
Zum Preisgeld gibt es eine Porzellanmedaille.  © Matthias Schumann

Er selbst fühlt sich gerade in dieser Gegend „vom kleinsten Misston ins Herz geschnitten“. Der Schriftsteller aus Köln, der seit 1996 in Dresden lebt und den Osten mit ständig nachwachsender Neugier erkundet, hat die Gegend eben erst als seine eigene entdeckt. Als er Anfang Januar Familiendokumente durchsah, stieß er überrascht auf Vorfahren aus Deutschbaselitz und Biehla. Sie lebten hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zogen fort, und die nächsten Generationen wechselten die Orte immer schneller auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensmöglichkeiten. Sie waren nirgends „von hier“. Marcel Beyer: „Das ist Familientradition, und ich kann gut mit ihr leben.“

Tauben finden heim

Auch bei den zwei jungen Autorinnen, die mit dem Förderpreis zum Lessing-Preis geehrt wurden, spielen die Fremde und das Fremdsein eine Rolle. Anja Kampmann wurde in Hamburg geboren, Bettina Wilpert wuchs in Altötting auf. Beide leben in Leipzig. Ausgezeichnet werden sie für ihre ersten Romane. Kampmann folgt einem modernen Tagelöhner von einer Bohrinsel durch halb Europa. In starken Bildern erzählt sie von bestürzender Einsamkeit.

Die Zeitebenen wechseln, und so sieht man eine polnische Familie, die in der jungen Bundesrepublik ihr Glück suchte. Sie fand Arbeit im Ruhrpott, doch keine Heimat. Sohn Waclaw, der Arbeiter von der Bohrinsel, bleibt ein Nomade. Ein alter Taubenzüchter gibt ihm einen Vogel mit über die Alpen. „Heimfindevermögen“ ist ein entscheidendes Wort im Roman „Wie hoch die Wasser steigen“.

Bettina Wilpert erzählt in ihrem Romanerstling „Nichts, was uns passiert“ von zwei Studenten, die in den Osten kommen und die Unverbindlichkeit zu ihrem Lebenscredo erklären. Bloß nicht festlegen, jede Situation offenhalten. Die Unentschiedenheit hat fatale Folgen. Nach einer alkoholreichen Party kommt es zu einer Vergewaltigung. Anna meint, deutlich Nein gesagt zu haben. Jonas meint, er habe kein Nein gehört. Aussage steht gegen Aussage. Nach zwei Monaten voller Wut und Depression zeigt sie ihn an. Er fühlt sich stigmatisiert und aus dem Freundeskreis ausgegrenzt.

Die Autorin protokolliert das Geschehen aus unterschiedlichen Sichten. Sie inszeniert die Vielfalt der Perspektiven, sodass die Wahrheit wie oft in solchen Fällen changiert. Der Leser sieht sich gezwungen, selbst ein Urteil zu fällen. Bettina Wilpert plädiert für Entschiedenheit und gibt das auch in ihrer Dankrede zu erkennen. Sie arbeitet als Trainerin für Deutsch als Fremdsprache und will als Lehrerin in den Schuldienst wechseln. „Aber ich möchte nicht in Sachsen lehren, wenn die AfD die Schulpläne mitgestaltet“, sagt sie. „Freiheit ist keine Metapher.“

Ministerin Eva-Maria Stange warnt davor, die Autonomie der Kunst zu verletzen.
Ministerin Eva-Maria Stange warnt davor, die Autonomie der Kunst zu verletzen. © Matthias Schumann

Auch die Förderpreise zum Lessing-Preis wurden aufgestockt, von 5 500 Euro auf 7 500. Es sei zwar profan, von Geld zu reden, so Staatsministerin Eva-Maria Stange, doch gerade in der Kunst sei es eine willkommene Anerkennung – und kein Eingriff in die Autonomie. Die Unabhängigkeit der Künstler von Vorgaben des Staates oder der Ökonomie müsse gewahrt werden. Es müssten alle Alarmglocken klingeln, wenn Politiker Kunst zurückdrängen wollten, weil sie ihnen nicht „deutsch“ genug oder nicht konventionell genug sei.