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Letzte Spätlese im Elbtal

Um Gäste aus den Großstädten anzulocken, führte die Verkehrsgesellschaft eine neue Linie ein. Die steht nun vorm Aus.

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© Sebastian Schultz

Von Kevin Schwarzbach

Meißen. Kurz nach 20 Uhr setzt sich die „Spätleselinie 601“ vom Meißner Busbahnhof aus am Sonnabendabend in Bewegung. In der nächsten Dreiviertelstunde wird Busfahrer Enrico Lübbe seinen Arbeitsplatz durch das Elbtal zum Nünchritzer Bahnhof steuern. Die Theorie sieht so aus: In Kleinzadel, Nieschütz, Diesbar und allen anderen kleinen, für ihre guten Gaststätten und den regionalen Wein bekannten Ortschaften steigen Fahrgäste ein, die aus Leipzig angereist sind und nun zum Nünchritzer Bahnhof wollen, um von dort mit dem Regionalexpress wieder in ihre Heimat zu gelangen. Auf der Rückfahrt soll der Bus dann die Dresdner einsammeln und in Meißen zur S-Bahn bringen. Eine sorgenfreie Heimreise. Scheinbar.

Tatsächlich erscheint beinahe jede Minute ein neues Haltestellenschild am Straßenrand, doch nirgends wartet ein Fahrgast. Die Bremse hat Busfahrer Lübbe nur für die Endhaltestelle dabei. An Anhalten ist nicht zu denken. Lübbe ist enttäuscht: „Offenbar mal wieder eine Leerfahrt.“

Es ist nicht das erste Mal seit dem Start der neuen Linie am 25. März 2016, dass der Bus komplett leer bleibt. „Ich war häufiger auf dieser Linie im Einsatz, leider war sehr selten etwas los“, berichtet der 34-Jährige. Auch Rolf Baum, Geschäftsführer der Verkehrsgesellschaft Meißen (VGM), ist beim Blick in die Statistik bitter enttäuscht. „Die Fahrgastzahlen sind weit unter den Erwartungen“, sagt er. „Von 184 angebotenen Fahrten fanden 70 ohne Fahrgäste statt. Weitere 76 Fahrten hatten ein bis zwei Fahrgäste“, so Baum. Die maximale Besetzung lag bei zehn Fahrgästen, im Schnitt fuhren 1,6 Fahrgäste mit.

Busfahrer allein im Bus

Besonders für den Busfahrer keine leichte Situation. Er verschläft seinen ganzen Tag, um dann nachts einen leeren Bus durch das Elbtal zu lenken. „Es gibt auch Kollegen, die lieber mit weniger Fahrgästen unterwegs sind, und es auch ganz gut aushalten können, wenn niemand im Bus sitzt“, sagt Enrico Lübbe. „Doch da ich häufig in Dresden als Fahrer im Einsatz bin, gehöre ich eher zu denen, die gern Gäste im Bus haben. Man kann sich unterhalten, die Gesellschaft genießen. Die Stimmung ist einfach besser.“ Am Fenster ziehen die Karpfenschänke und das Gasthaus Zur Knorre vorüber.

Die Konturen der Weinberge verlieren sich in der Dunkelheit, ab und an fliegt die Spiegelung einer Straßenlaterne über die Elbe. Enrico Lübbe tritt auf die Bremse, endlich darf er anhalten – für ein Foto vor dem Gasthaus Zum Roß in Diesbar. Mit bescheidenem Schritt verlässt der 34-Jährige seinen Arbeitsplatz, richtet sein um den Kopf gekämmtes blondes Haar und stellt sich vor seinem Bus auf. Ein sympathischer junger Mann, dessen vereinnahmendes Lächeln verrät, dass ihm die Fahrgäste am Herzen liegen. Doch auch an diesem Tag bleibt er selbst sein einziger Fahrgast.

Dass die Spätleselinie solch katastrophale Zahlen durch das Elbland fährt, führt VGM-Geschäftsführer Rolf Baum auch auf die fehlende Initiative der Gaststätten und Weinbaubetriebe zurück.

Potenzial anderweitig einsetzen

„Der Versuch, die Elbweindörfer in den Abendstunden zu beleben, ist auf Anregung regionaler Tourismusfachleute gemacht worden“, erklärt er. „Leider haben sich die Gaststätten und Weinbaubetriebe wenig oder gar nicht an der Werbung beteiligt. Marketinginitiativen gingen fast ausschließlich von VGM und VVO aus.“ Das Negativerlebnis sei gewesen, dass einige Gaststätten ihre Gäste nach 20 Uhr nicht mehr bewirten wollten. Wozu dann noch eine Spätleselinie?

Die Zahlen lassen für Baum derzeit nur einen Schluss zu: „Vor dem Hintergrund der schlechten Inanspruchnahme wird es dieses Angebot 2017 voraussichtlich nicht mehr geben.“ Das eingesparte Potenzial könnte für eine touristische ÖPNV-Verbindung zwischen Dresden, Radebeul, Moritzburg und Meißen genutzt werden.

Nach 42 Minuten Fahrt erreicht Enrico Lübbe die Endhaltestelle in Nünchritz. Acht Minuten Pause. Er stellt die Anzeige von 601 auf 602. Dann geht es zurück nach Meißen.

Später wird er als Linie 603 noch einmal nach Nünchritz kommen, um dann als 604 wieder nach Meißen aufzubrechen. Ein einsamer Abend. Doch Enrico Lübbe gibt nicht auf: „Auch das gehört zu meinem Job.“ Nächstes Wochenende fährt die Spätleselinie dann wohl das allerletzte Mal durchs Elbtal – mit oder ohne Fahrgäste.