Marcus Thielking
Endlich haben Sie es wieder geschafft, die schlimmste Zeit des Jahres ist fast vorbei: Weihnachten. Während andere Plätzchen backen, Fenster dekorieren und Glühwein trinken, müssen Sie schuften, von früh bis spät, bei Wind und Wetter, und es wird immer schlimmer. Alles bestellen die Leute heute bei Amazon, Zalando und Co. – wirklich alles. Man wundert sich, dass noch keiner auf die Idee gekommen ist, seine Kinder zu Weihnachten per Paket an die Großeltern zu schicken. Es ist doch so einfach. Drei Mausklicks, und die Sache ist erledigt. Wozu überhaupt noch das Haus verlassen? Da draußen sind doch sowieso nur noch Paketboten unterwegs.
Ich gebe es zu, auch ich habe schon Geschenke übers Internet bestellt. Macht ja auch Spaß. Dank Sendungsverfolgungsnummer kann man stündlich kontrollieren, wo sich das Paket auf seinem Weg gerade befindet. Mittwoch, 6.45 Uhr: „Die Sendung wurde im Paketzentrum Ottendorf-Okrilla bearbeitet.“ Das ist immer meine Lieblingsmeldung, denn dann dauert es nicht mehr lange. Ottendorf-Okrilla, da wohnt heute der Weihnachtsmann.
Aber wenn Sie dann plötzlich vor unserer Haustür stehen und haben noch einen Stapel anderer Pakete für vier verschiedene Nachbarn dabei – natürlich alles von Amazon –, dann bekomme ich doch ein schlechtes Gewissen. Es ist doch Wahnsinn, was wir hier machen, absoluter Wahnsinn. Neulich habe ich mich so mies gefühlt, dass ich mir noch am selben Tag das Buch „Die Kunst des guten Lebens“ bei Amazon bestellt habe. Immerhin hat die Sache ein Gutes: Viele lernen auf diese Weise zum ersten Mal ihre Nachbarn kennen, wenn sie nämlich ihre zurückgelegten Pakete abholen. Weihnachten, das Fest der Liebe!
Übrigens bewundere ich Sie dafür, wie gut gelaunt Sie trotz allem meistens vor der Tür stehen. Einbahnstraßen, Tempo-30-Zonen, enge Parklücken, und oft werden Sie wahrscheinlich noch angeraunzt, weil Sie mal auf dem Radweg halten müssen oder auf dem Bürgersteig. Klar sind das dieselben Leute, die am lautesten motzen, wenn ein Paket nicht pünktlich ankommt. Und dann fahren Sie auch noch mit Diesel-Transportern, du meine Güte! Ich könnte echt verstehen, wenn Paketboten eine Stinklaune hätten. Aber wie gesagt, meistens sind Sie superfreundlich. Ich vermute mal, an Ihren Löhnen wird es nicht liegen, oder? Ist es vielleicht die Kombination aus frischer Luft und Bewegung? Oder liegt es daran, dass sich die meisten Leute freuen, wenn Sie sie sehen? Immerhin bringen Sie die Geschenke. Ein Trinkgeld gibt’s dafür aber nicht. Der Weihnachtsmann kriegt schließlich auch nichts.
Also, liebe Paketboten, an dieser Stelle möchte ich einmal ganz herzlich Danke sagen. Und Entschuldigung. Nächstes Jahr bestelle ich vor Weihnachten nichts mehr im Internet, versprochen. Und nun genießen Sie in Ruhe die Feiertage – bevor nächste Woche alle ihre Geschenke zum Umtauschen wieder zurückschicken.
Ihr Marcus Thielking
Der „Offene Brief“ ist eine Rubrik im Magazin der Sächsischen Zeitung, das immer am Sonnabend erscheint.