Ein norwegisches Sprichwort besagt: "Das Leben ist ein Abenteuer, das manchmal den Mut erfordert, neue Wege zu erkunden und sich in das Unbekannte zu stürzen."
Heiko Scholze war nicht der Typ, der sich blauäugig auf Abenteuer einlassen würde. Er braucht Sicherheit. Alles muss so sorgfältig geplant sein wie sein erster Norwegenurlaub 2002, nach dem ihn auf der Rückreise nach Deutschland Wehmut überfiel, die er so noch nie erlebt hatte. "Ich stand an der Reling der Fähre mit dem Blick auf das Meer. Hinter mir lag Norwegen. Je näher wir der Heimat kamen, desto größer wurde mein Abschiedsschmerz. Instinktiv spürte ich, dass mich etwas Unerklärliches mit diesem Land verband", erinnert sich der Neugersdorfer. Damals ahnte er nicht, dass gerade das größte Abenteuer seines Lebens begann.
In Neugersdorf besuchte der heute 58-Jährige die Fichteschule. Später ging er nach Leipzig, machte eine kaufmännische Ausbildung und begann danach an der Ingenieurschule in Görlitz Informatik zu studieren. Nach der Wende gründete er mit zwei Freunden 1990 die Firma Büroland Leipzig, wo er als IT-Berater fungierte. Mit 22 Jahren heiratete er und bald darauf wurde sein Sohn geboren.
Als Initialzündung für seine Liebe zu Norwegen sieht der Oberlausitzer die Begegnung mit Uwe aus Lauscha, der ihm inspirierende Geschichten über das Land mit den schroffen Gebirgszügen, tiefen Fjorden, wilden Wäldern und atemberaubenden Wasserfällen erzählte. So wurde Norwegen für Heiko zu einem Sehnsuchtsort. Mit jeder seiner sieben Reisen wuchs das Interesse. Er begann, die fremde Sprache zu lernen, trat 2004 in die Deutsch-Norwegische Freundschaftsgesellschaft ein und wurde dort Regionalleiter für Mitteldeutschland.
Als der Norwegenfan Anfang März 2006 im Rahmen einer Sprachreise bei einem Nordlichterspektakel auf den Lofoten seinen 40. Geburtstag feierte, begriff er, dass sich etwas in seinem Leben ändern musste. Bald nahmen Auswanderungspläne konkrete Gestalt an, denn auch beruflich sah er keine Weiterentwicklung mehr und seine Ehe stand vor dem Aus.
Im November 2007 flog er zu einem Freund nach Oslo, wo er mit dem Ziel, eine Arbeit und ein Zuhause zu finden, Nägel mit Köpfen machen wollte. Nach etlichen Absagen bekam er schließlich ein Jobangebot bei Brimer Kvamsøya AS. Es folgte ein abenteuerlicher Flug auf die Insel Kvamsøy, 200 Kilometer nördlich von Bergen. Aufgrund des schlechten Wetters, das die Landung des Flugzeugs unmöglich machte, wurde die Reise zur Odyssee.
Nach dem Vorstellungsgespräch wusste er, dass man in der Produktion Arbeiter brauchte. Er erfuhr aber auch, dass auf der kleinen Insel nur 250 Leute wohnten, es nur einen Laden gab, dafür aber einen winzigen Sandstrand, jedoch keine Brücke zum Festland, sondern nur eine Fährverbindung. So hatte er sich sein neues Leben nicht vorgestellt. Alternativlos unterschrieb er trotzdem den Arbeitsvertrag. Den schweren Knochenjob in der Abteilung, wo Silos und Wassertanks aus einem Glasfaser-Kunststoff-Gemisch hergestellt wurden, war er nicht gewohnt. "Als ich nach dem Arbeitstag allein auf meinem Balkon stand und den majestätischen Seeadler am Himmel kreisen sah - im Hintergrund 'Fjord og Fjell' - merkte ich, wie alles, was mich belastete, von mir abfiel", erzählt der Sachse, der in Leipzig viel zu oft nach der Arbeit gestresst im Stau gestanden hatte. Dankbar für die Ruhe genoss er jetzt den Augenblick und die Nähe zur Natur.
Beide aus der Leipziger Gothic-Szene
Nach sechs Wochen brachte ihn die Schwerstarbeit mit unerträglichen Schmerzen im Arm an seine Grenzen. Weil Therapien nicht anschlugen, riet ihm der Arzt zum Wechsel des Arbeitsplatzes. Trotz allem erinnert sich der Oberlausitzer gern an die Lektion auf Kvamsøy, wo er sein Leben aus einer neuen Perspektive zu betrachten begann und den Wert der Arbeit anders schätzen lernte.
Gemäß dem Sprichwort „Alt ordner seg“ - alles wird gut - fand er bei Solarsoft in Lillehammer eine Anstellung als Softwareentwickler sowie eine schöne Wohnung im ländlichen Umfeld. In der überschaubaren Stadt mit etwa 27.800 Einwohnern fühlt sich der Neugersdorfer wohl, denn deren Lage am Mjøsa, dem größten See Norwegens, mit umliegenden Bergen birgt viel Lebensqualität. Nicht nur als Austragungsstätte der XVII. Olympischen Winterspiele erlangte Lillehammer 1994 Berühmtheit, sondern auch durch die einzigartige Kunst- und Kulturszene, wo Museen oder Festivals in die Unesco-Stadt der Literatur einladen.
Vielleicht hatte das Schicksal die Hand im Spiel, als er über das Netzwerk MySpace Annegret kennenlernte, mit der er mehr als nur denselben Musikgeschmack teilt. Früher hatten die beiden Anhänger der Gothic-Szene in Leipzig gelebt, doch waren einander dort nie begegnet.
Annegret war im Sommer 2007 mit ihrer Tochter Saskia nach Norwegen ausgewandert, wo sie in ihrem Beruf als Heilerziehungspflegerin endlich das fand, wonach sie gesucht hatte. Sie lobt die Arbeitsbedingungen in Norwegen und hebt hervor, dass sie hier drei geistig behinderte Männer, die in einer WG leben, zu betreuen hat und dabei auf jeden Patienten individuell eingehen konnte. Ein Traum, verglichen mit Deutschland, wo sie sich in einem Heim für Behinderte um große Gruppen kümmern und aufgrund des Mangels an Fachkräften unzählige Überstunden leisten musste. Auf persönliche Bedürfnisse der Heimbewohner einzugehen, war kaum möglich.
2010 zog Annegret mit ihrer neunjährigen Tochter und über 60 geliebten Trollen in die Doppelhaushälfte zu Heiko. Mit Begeisterung schildert die Leipzigerin die Begrüßung am nächsten Morgen durch 18 Elche, die vor ihrem Fenster standen.
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Am 8. Juli 2019 heiratete das Paar auf Spitzbergen, dem norwegischen Archipel zwischen Festland und Nordpol, wo felsiges Gelände mit Gletschern, gefrorener Tundra und Eisbären das Bild der Landschaft prägt. „Es war eine heimliche, sehr private Hochzeit zu Depeche Mode-Klängen - im Gothic-Style ganz in Schwarz - mit vier unserer Lieblingsmenschen als Trauzeugen“, verrät Annegret.
Heiko spricht über drei unvergessliche Tage in der Arktis, wo sie unter anderem die russische Polarstation Barentsburg sowie Pyramiden, eine 1997 aufgegebene russische Bergbausiedlung besuchten, wo noch heute Lenin über dem zentralen Platz der Geisterstadt wacht, die jetzt ein Revier von Eisbären, Rentieren, Polarfüchsen und Möwen ist.
Am liebsten zu zweit oder mit Freunden
In der Nähe des vorherigen Wohnortes hat das Ehepaar ein typisches Holzhaus, das im Winter der uralte Ofen wärmt, bezogen. Mit ihren vier Katzen genießen sie Gemütlichkeit und Einsamkeit, denn Menschenaufläufe sind nicht ihr Ding. Nur beim Konzertbesuch darf es auch mal eng werden. Am liebsten verbringen sie ihre Freizeit zu zweit oder mit guten Freunden. Manchmal kommen die Kinder zu Besuch. Draußen in der Natur entdecken sie wandernd immer wieder neue mystische Orte. „Meine Frau interessiert sich für Sakralkunst, weshalb sie Friedhöfe und Kirchen magisch anziehen. Inzwischen kann auch ich mich dafür begeistern, obwohl mich sonst andere Themen, wie zum Beispiel die Quantentheorie, faszinieren“, sagt der Neugersdorfer, der in Norwegen heimisch geworden ist.