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Unterwegs mit den Rehkitzrettern

Zwei Seifhennersdorfer gründeten einen Verein, der sich eine besondere Aufgabe gestellt hat: Per Drohne spüren sie junge Rehe auf und verhindern, dass sie vom Mähdrescher erfasst werden. SZ hat die Tierretter begleitet.

Von Andrea Thomas
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Vorsichtig werden die Jungtiere von Feld oder Wiese an einen sicheren Platz getragen.
Vorsichtig werden die Jungtiere von Feld oder Wiese an einen sicheren Platz getragen. © privat/Verein

In der Nähe vom Großen Stein war Fabian Krems mit der Grasmahd beschäftigt, als er plötzlich bemerkte, dass ein Fremdkörper ins Mähwerk geraten war. Er stoppte das Fahrzeug, stieg aus und als er das mit dem Tode ringende Rehkitz, dem es die Läufe weggesenst hatte, sah, erstarrte er vor Entsetzen. Ein Moment, der sich bis heute in seinem Gedächtnis eingebrannt hat. „Das herzzerreißende Fiepen und diese Augen, in denen sich Todesangst spiegelte, das ging mächtig an die Nieren“, erinnert sich der Landwirt. "Für einen kurzen Augenblick übermannte mich ein Gefühl unbeschreiblicher Hilflosigkeit." Schließlich blieb dem Seifhennersdorfer nichts anderes übrig, als selbst Hand anzulegen, um das Tier von seinen Qualen zu erlösen. „Eine solche Situation will man nicht noch einmal erleben“, stellt der 39-Jährige klar.

Und dennoch reagierte er zuerst mit Skepsis, als ihm Andreas Schäfer begeistert von seiner Idee, einen Verein zur Rehkitzrettung gründen zu wollen, erzählte und ihn fragte, ob er ihn dabei unterstützen wolle. Fabian Krems kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass dieser, hatte er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, die Sache auch durchziehen würde. Als am 15. Juli 2021 der Verein „Rehkitzrettung Am Großen Stein“ ins Vereinsregister eingetragen wurde, stand Fabian Krems als Stellvertreter an der Seite des Gründers und Vereinsvorsitzenden Andreas Schäfer.

Bevor die Traktoren mit dem Mähwerk kommen, suchen Fabian Krems (rechts) und Andreas Schäfer mit Drohnen nach Rehkitzen.
Bevor die Traktoren mit dem Mähwerk kommen, suchen Fabian Krems (rechts) und Andreas Schäfer mit Drohnen nach Rehkitzen. © Matthias Weber/photoweber.de

Revier zwischen Seifhennersdorf und Kottmar

Ein Nachmittag im Juli 2022: Langsam ruckelt der allradbetriebene Subaru über den mit dichtem Gras bewachsenen Feldweg. Ich sitze im Auto neben Andreas Schäfer und vertraue der Ortskenntnis des Fahrers, der mir das Revier zeigt, in dem der Verein tätig ist. Seifhennersdorf liegt hinter uns, am Richterbergweg haben wir die Hauptverkehrsstraße nach Spitzkunnersdorf verlassen und sind nach links abgebogen. Vor uns liegen Wiesen, deren sattes Grün bereits ein wenig verblasst ist, und gelbbraune Felder, umrahmt von sanften Hügeln. Eine Postkartenidylle so weit das Auge reicht. Rechter Hand den Spitzberg im Blick steuert Andreas Schäfer auf den Wacheberg zu. Während aus der Ferne müde rotierende Propeller der Windräder den Weg weisen, saugen unerbittliche Sonnenstrahlen die letzte Feuchtigkeit aus dem ohnehin schon viel zu trockenen Boden. Ab und zu ein kurzer Stopp. Andreas Schäfer deutet mit dem rechten Arm auf Stellen und Orte, wo Rehkitze vor dem sicheren Tod bewahrt werden konnten.

Während ein vorüberfahrender Traktor mit Mähkombination eine dichte Staubwolke hinter sich herzieht, geht es weiter zum Kottmar, wo die Rehkitzretter am 11. Juni dieses Jahres eine Ausnahmesituation erlebten. „Wir starteten bereits gegen 3 Uhr. Kurz darauf kündigte sich mit einem Hauch von kühlem Rot am Horizont die Morgendämmerung an“, erinnert sich Andreas Schäfer an besagten Tag. Er schildert, wie zarte Nebelschleier aus den damals noch sattgrünen Wiesen emporstiegen und die Magie des Augenblicks, unterstützt durch einen morgendlich-frischen Luftzug, den letzten Anflug von Müdigkeit vertrieb. Detailliert erklärt er die Vorbereitungen des Einsatzes und beschreibt die Funktionsweise der Drohne. Diese ist das wichtigste Arbeitsgerät der Crew. Er hebt hervor, dass mit jedem Einsatz die Routine wachse, man sich schon fast ohne Worte verstehe und die optimierten Arbeitsabläufe immer schneller vonstattengehen würden. Er weiß, Zeit ist kostbar, denn wenn die Sonne aufgeht und den Boden erwärmt, muss die Aktion abgeschlossen sein.

Acht Jungtiere auf einmal gerettet

"Anfangs lief alles wie gewohnt, doch dann kamen wir fast an unsere Grenzen", gibt Schäfer schmunzelnd zu und erzählt, dass damals gerade die zweite Mahd des Grünfutters angestanden habe. Die Gefahr, dass dabei ein Rehkitz verletzt wird, sei groß, denn die Jungtiere würden vor den Mähdreschern nicht weglaufen, sondern einfach liegenbleiben, weil sie einen sogenannten Duck-Reflex haben. Dieser schütze sie zwar vor dem Fuchs, der sie deshalb nicht als Beute erkenne, aber beim Einsatz von Landwirtschaftsmaschinen würde dieser natürliche Instinkt zur tödlichen Gefahr werden. Einen kurzen Moment hält er inne und lässt seinen Blick über das Feld schweifen, ehe er weiterspricht: „Mit nur drei Hektar handelt es sich hier um ein relativ kleines Landstück, das vom Landwirtschaftsbetrieb Göbel bewirtschaftet wird."

Nachdem er zwei Neulingen seiner Bodencrew ihre Aufgaben erklärt hatte, startete er die Drohne, deren Wärmebildkamera schon bald eine Wärmesignatur erkannte, schildert Schäfer. Bei näherem Anfliegen bestätigte sich die Vermutung, dass es sich um ein Rehkitz handeln könnte. Die Helfer streiften Handschuhe über und rissen ein paar Grasbüschel ab, um damit das Kitz vorsichtig, ohne mit ihm in Körperkontakt zu kommen, aus dem Grasversteck zu heben und es an einen sicheren schattigen Platz zu bringen.

Binnen kurzer Zeit wurden so sechs Jungtiere gefunden. Hinzu kamen noch zwei weitere Kitze, die ein zweites Team ganz in der Nähe aufgespürt hatte. "Acht auf einen Streich! Das muss man sich mal vorstellen!" Der Vierzigjährige schüttelt mit dem Kopf und lacht, als er hinzufügt, dass er den Wecker, der ihn gegen 2.45 Uhr aus dem Schlaf gerissen hatte, verflucht habe. "Doch in solchen Momenten ist man unsagbar froh, die richtige Entscheidung getroffen zu haben."

Arbeit geht Rettern an die Substanz

Gras und Handschuhe sorgen dafür, dass Kitz und Retter keinen Hautkontakt haben.
Gras und Handschuhe sorgen dafür, dass Kitz und Retter keinen Hautkontakt haben. © privat/Verein

Die Zeit der freiwilligen Frühschichten der Rehkitzretter ist seit etwa vier Wochen vorbei und der Kfz-Meister Andreas Schäfer zurück im Alltag. Gemeinsam mit seiner Frau fungiert er im Autohaus Röthig als Geschäftsführer. An Ruhe und Erholung ist trotzdem nicht zu denken, denn seine Arbeitszeit geht weit über die Öffnungszeiten der Firma hinaus. Der Beruf fordert ihm viel ab. Aber die ehrenamtliche Tätigkeit macht ihn glücklich.

Ähnlich ergeht es Fabian Krems, seinem Stellvertreter, der bei der Agrargenossenschaft Eibau für die Biogasanlage sowie die Ausbildung der Lehrlinge Verantwortung trägt. "Bei mir ging diese Doppelbelastung ganz schön an die Substanz. Man muss sich etwas einfallen lassen, um trotz Schlafdefizit allen beruflichen Anforderungen voll gerecht zu werden." Deshalb habe er sich während der Zeit der Einsätze mit Energie-Drinks munter gehalten, verrät der Landwirt. Beide Männer stehen stellvertretend für die 30 Mitglieder des Vereins. "Alle sind ehrenamtlich tätig, Geld bekommt keiner dafür. Manche zusätzlichen Kosten bleiben dazu an uns hängen." Vereinsvorsitzender Schäfer betont, wie stolz er auf sein gesamtes Team ist. „Ich bin allen sehr dankbar, denn jeder hat sich, so gut er kann, eingebracht.“

Retter hoffen auf weitere Unterstützung

Dem kann Andreas Arnold, der Vorsitzende der Vermögensgemeinschaft Spitzkunnersdorf, nur beipflichten. "Ich bin selbst live dabei gewesen, als ein Team bei der Forstenschanze ein Rehkitz gefunden hat. Das war für mich persönlich ein sehr bewegender Moment, denn ich stellte mir vor, was sonst passiert wäre." Er lobt die unkomplizierte Zusammenarbeit mit dem Verein. "Wenn wir die Mahd bis zur Deadline am Vortag mit GPS-Daten anmelden, können wir uns darauf verlassen, dass in den frühen Morgenstunden das Gebiet abgesucht worden ist und kein Tier im Mähwerk zu Tode kommt." Dass es landwirtschaftliche Betriebe gibt, die diesen kostenfreien Dienst nicht nutzen würden, könne er nicht verstehen, denn damit würde man fahrlässig den unnötigen Tod eines Tieres in Kauf nehmen und sich strafbar machen.

Langeweile kennt Andreas Schäfer nicht. "Nach der Saison ist vor der Saison. Das klingt vielleicht lapidar, aber so ist es", meint er augenzwinkernd. Bereits jetzt berät der Verein, wie man dem steigenden Bedarf an ihren Diensten entgegenkommen kann. Schließlich sind die Rehkitzretter "Am großen Stein" die einzigen in Ostsachsen, die den Landwirtschaftsbetrieben ihre Hilfe anbieten. "Wir planen die Anschaffung von zwei weiteren Drohnen und hoffen auf Zuwachs der Mitgliederzahl. Doch ohne finanzielle Unterstützung werden wir unsere Probleme nicht lösen können." Im Namen des Vereins bedankt sich der Vorsitzende bei allen Spendern und Firmen, die die Arbeit der Rehkitzretter unterstützen und hofft auf weitere Hilfe.

Kontonummer Rehkitzrettung Am Großen Stein e. V.: DE89 8505 0100 0232 0889 50