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„Mehrzahl der Fahrer überschätzt ihr Können“

Erneut gibt es in der Region mehr Verkehrsunfälle und mehr Verletzte. Ein Unfall-Experte analysiert für die SZ die Zahlen.

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© Daniel Förster

Von Franz Werfel

Pirna. Sechs Menschen starben im Jahr 2017 bei Verkehrsunfällen im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, drei von ihnen waren mit dem Motorrad unterwegs. Das geht aus der jüngsten Statistik der Polizei hervor. Insgesamt ist die Zahl der an Verkehrsunfällen beteiligten Motorradfahrer deutlich gestiegen: von 101 im Jahr 2016 auf 128 im Jahr 2017. Deshalb kündigt die Polizei an, Motorradfahrer stärker zu kontrollieren. „Die Diskrepanz zwischen selbsteingeschätztem Fahrkönnen und tatsächlicher Fähigkeit ist nicht selten die Ursache für schwerste Verkehrsunfälle“, sagt Polizeirat Gerald Baier, Leiter der Dresdner Verkehrspolizei. „Mit Blick auf die Motorradunfälle wird die Polizei weitere Kontrollen im Bereich des Müglitztals sowie der Hocksteinschänke durchführen.“

Henrik Liers ist Diplom-Ingenieur und Geschäftsführer der Verkehrsunfallforschung an der Technischen Universität Dresden.
Henrik Liers ist Diplom-Ingenieur und Geschäftsführer der Verkehrsunfallforschung an der Technischen Universität Dresden. © Vufo
© Grafik: SZ

Die Zahl der erfassten Verkehrsunfälle stieg 2017 erstmals seit Jahren über die Marke von 6 000. Jeder fünfte Unfallverursacher flüchtete, bevor die Polizei am Unfallort ankam. Erstmals seit drei Jahren gab es wieder mehr Verletzte. Zu den sechs Todesopfern, die diese Unfälle forderten, kommen 262 Schwerverletzte – ein Anstieg um mehr als 13 Prozent im Vergleich zu 2016 – und 782 Leichtverletzte. Unter den Verletzten waren insgesamt 100 Kinder, ebenfalls deutlich mehr als im Jahr zuvor. Die Polizei reagiert auf den erneuten Anstieg der Zahl verletzter Kinder. „Wir werden mehr Geschwindigkeitskontrollen vor Schulen durchführen und zugleich die Sicherung von Kindern in Kraftfahrzeugen konsequent überwachen.“

Die SZ hat die Unfallstatistik mit einem der führenden Unfallexperten Deutschlands analysiert.

Herr Liers, wenn Sie sich die Unfallstatistik für unseren Landkreis anschauen, was fällt Ihnen dann auf?

Absolut untypisch ist, dass mit drei von sechs getöteten Menschen die Hälfte aller Unfalltoten Motorradfahrer sind. Die Sächsische Schweiz, vor allem mit der Hocksteinschänke, sowie das Müglitztal und das Osterzgebirge sind besonders beliebte Motorradstrecken. Ganz klar muss man aber gleichzeitig sagen: Auch wenn jeder Tote einer zu viel ist, halten sich die Zahlen bei Ihnen in Grenzen.

Der Landkreis verbietet Motorräder an Feiertagen und Wochenenden auf den Serpentinen an der Hocksteinschänke. Ist das der richtige Weg?

Ganz klar, ja. Gastronomen sollten das Verbot verkraften. Menschen gehen vor. Das sind zwar herrliche alte Trassen, die laden aber auch zum Rasen ein. Relativ neu ist das Anti-Blockier-System ABS für Motorräder. Das ist der Lebensretter Nummer eins.

Erstmals seit 2014 gibt es bei uns wieder mehr leicht und schwer verletzte Unfallopfer. Ist das ein Trend?

Ja, das zeigen deutschlandweite Vergleiche ganz deutlich. Auf der einen Seite sterben im Straßenverkehr immer weniger. Die Autos werden immer sicherer, mit Airbags, auch am Kopf, mit hochfesten Stählen, aus denen die Insassenzellen gebaut werden, mit dem elektronischen Stabilitätsprogramm ESP, das seit 2011 EU-weit vorgeschrieben ist. Aber die Hälfte aller Autos in Deutschland ist älter und hat diesen Schutz noch nicht. Zugleich nehmen die Unfälle und die Zahlen der Leicht- und Schwerverletzten zu.

Woran liegt das?

Wir haben jedes Jahr mehr Autos auf den Straßen. Der Trend geht – besonders bei Pendlern – zum Zweitwagen. Im Güterverkehr ist die Region ein wichtiger Transitbereich, wenn Sie nur an die A 4 nach Polen und die A 17 nach Tschechien denken. Ein Problem, das wir aus der Verkehrspsychologie kennen, betrifft die Selbstüberschätzung vieler Fahrer. Vier von fünf Deutschen sagen: Ich bin ein überdurchschnittlich guter Fahrer. Man sieht schon an den Zahlen, dass das nicht stimmen kann.

Werden auch mehr Unfälle gemeldet?

Ja. Das liegt daran, dass mehr Leasingautos unterwegs sind und viele Verleiher das verlangen. Zum anderen hat man früher eher einen Auffahrunfall zugegeben, während heute, wo viele eine Rechtsschutzversicherung haben, schon eher die Polizei gerufen wird, obwohl das nicht nötig wäre, wenn sich beide Seiten vor Ort einigen. Es gibt mehr Anzeigen und die Gerichte müssen mehr Fälle entscheiden.

Bei uns wurden 2017 mehr Kinder im Straßenverkehr verletzt.

Das ist schlimm, auch wenn hier ebenfalls die Zahlen absolut recht gering sind. Die Polizei definiert als schwer verletzt, wer länger als 24 Stunden im Krankenhaus bleibt. Das kommt bei Kindern öfter vor als bei Erwachsenen. Die meisten haben gute Kindersitze. Das allein reicht aber nicht aus. Ich muss den Sitz sicher im Auto festschnallen – und das Kind darin auch. Da sind viele nachlässig.

Schauen wir uns die Unfallursachen an, sind wie in jedem Jahr die Klassiker ganz vorn dabei: zu schnell, zu kleiner Abstand, Vorfahrt missachtet…

Besonders stark zugenommen hat in Deutschland und auch bei Ihnen die Ablenkung durch Smartphones. Da helfen nur mehr Kontrollen und drakonische Strafen.

Sind Sie generell für heftigere Strafen bei Verkehrsverstößen?

Auf jeden Fall. In skandinavischen Ländern, der Schweiz oder Italien passieren deshalb viel weniger Unfälle. Das ist erwiesen. Wer bei uns im Ort zehn km/h zu schnell ist, muss 15 Euro zahlen, in der Schweiz sind es 120 Euro. Oder beim Alkohol: Werden Sie hier mit 1,5 Promille erwischt – das ist schon sehr viel – zahlen Sie 500 Euro, bekommen zwei Punkte und einen Monat Fahrverbot. In Italien kann es passieren, dass Ihr Auto direkt vor Ort zwangsversteigert wird. Das ist dann weg.

Haben Sie noch weitere Tipps?

Autofahrer sollten sich und ihre Kinder immer anschnallen sowie das Handy gar nicht nutzen. Für Motorradfahrer, gerade die Wiedereinsteiger, empfehle ich unbedingt ein Fahrsicherheitstraining. Für Radfahrer gilt: Helme retten Leben. Wir wollen ja auch, dass unsere Kinder Helme tragen. Radfahrer sollten sich absolut immer an Verkehrsregeln halten und versuchen, Verständnis für Autofahrer aufzubringen.

Wie können sich Fußgänger schützen?

Jeder zweite Fußgänger stirbt bei Dunkelheit, obwohl viel weniger abends und nachts unterwegs sind. Leuchtstreifen helfen wirklich, nach einer Party in der Dorfdisko kann man sich auch mal eine Warnweste überziehen. Und auch bei Grün sollten Fußgänger im Zweifel lieber stehenbleiben, als auf ihr Recht auf der Straße zu beharren. Das kann tragisch enden.