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Ukrainische Geflüchtete teilen sich Zimmer mit Star-Tenor

Björn Casapietra wollte am Sonntag nach Meißen kommen. Corona sorgte für plötzliche Planänderungen - nicht zum ersten Mal, wie er verrät.

Von Marvin Graewert
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Sechs Wochen lang teilte sich Tenor Björn Casapietra sein Zimmer mit der geflüchteten Iryna Didychuk und ihren beiden Kindern. Statt einer Tür ließ sich nur der Vorhang zuziehen.
Sechs Wochen lang teilte sich Tenor Björn Casapietra sein Zimmer mit der geflüchteten Iryna Didychuk und ihren beiden Kindern. Statt einer Tür ließ sich nur der Vorhang zuziehen. © Marvin Graewert

Mit dem Überfall auf die Ukraine hört Tenor Björn Casapietra die Stimme seines Vaters, dem berühmten Dresdner Dirigenten Herbert Kegel: "Zweimal die Woche hat er mir erzählt, wie er in Russland im Schützengraben lag, als plötzlich eine Kugel seine rechte Hand durchbohrte." Der Moment, in dem der Pianist starb und der Dirigent geboren wurde.

Geht jetzt alles wieder los? Casapietras Gedanken überschlagen sich, erst voller Entsetzen, dann kocht die Wut. Um seine Emotionen umzulenken, stellt der 52-Jährige seine Wohnung auf eine Plattform für ukrainische Geflüchtete und schreibt eine Nachricht an Iryna Didychuk, die in der Ukraine als Psychologin arbeitete, aber immer wieder in Berlin für einen Zuverdienst geputzt hat – auch bei Casapietra.

Didychuk zögert. Die 37-Jährige hofft, dass der Krieg sie verschont. Schließlich wohnt sie in einem Dorf in der rumänisch-moldawischen Grenzregion, unweit der Stadt Czernowitz, fast 350 Kilometer von Kiew entfernt. Doch der erste Luftalarm lässt nicht lange auf sich warten. Nach einer Nacht im Keller packt sie ihre 9-jährige Tochter und ihren 15-jährigen Sohn und verlässt die Ukraine. Auf nach Berlin. Ihren Hund müssen sie zurücklassen.

Mit der Hilfe seines Fanclubs konnte Björn Casapietra für Maxim, Anja und Iryna Didychuk eine Wohnung finden.
Mit der Hilfe seines Fanclubs konnte Björn Casapietra für Maxim, Anja und Iryna Didychuk eine Wohnung finden. ©  privat

Eigentlich teilt sich Björn Casapietra seine großzügig geschnittene 100-Quadratmeter-Wohnung nur mit seinem Golden Retriever Winnie. Selbst seine Tochter schläft ab und zu bei der Mutter. Doch nur weil die Wohnung groß ist, heißt es nicht, dass es auch Türen gibt: Casapietras Schlafzimmer lässt sich nur mit einem Vorhang vom Wohnzimmer mit Kücheninsel abtrennen: "Ich lag also mit Schlafmaske auf dem Sofa und hörte jedes Mal, wenn der Kühlschrank geöffnet wurde und jemand seine Cornflakes geknuspert hat", so Casapietra, über eine schöne Zeit, in der es aber keine Privatsphäre gab. Maxim und Anja mussten jeden Morgen um sieben Uhr aufstehen, um sich rechtzeitig auf ihrem Smartphone zum Home-Schooling einzuwählen. Während sich das Leben des Tenors weiterhin in den Abend- und Nachtstunden abspielte.

Seine Wohnung befindet sich in Berlin-Mitte, wo sich Restaurants an Cafés reihen; zwischendurch gibt es mal eine Bar. Um alle Klischees zu bedienen, werden auf einer Kreidetafel vor der Haustür des Tenors hausgemachte Käsespätzle angepriesen. Seit seiner Jugend beschäftigt sich der 52-Jährige vielmehr damit, wie es dort früher einmal aussah: "Ich hab mich von Anfang an gefragt: Wo sind die ganzen Männer mit den langen Bärten und Schläfenlocken hin, die auf fast allen Schwarz-Weiß-Bildern zu sehen sind?"

Viele der sogenannten "Ostjuden" lebten in seinem Bezirk, bis sie flüchteten oder abtransportiert wurden: "Allein in diesen zwei Straßen gab es acht Synagogen", sagt Casapietra.

Mama, die Volksverräterin

Keine 100 Jahre später liegt der 15-jährige Flüchtling Maxim in Casapietras Dachgeschosswohnung und versteckt sich den ganzen Tag hinter seinem Smartphone. "Morgens um den Unterricht weiterzuverfolgen, den Rest des Tages blieb er liegen", berichtet Casapietra. In seiner Heimat war Maxim jeden Tag mit dem Hund draußen, die Flucht verändert ihn: "Schon auf der Fahrt von der Ukraine – über Bukarest, über Prag und tausend Stationen – nach Berlin, hat er seine Mutter als Volksverräterin bezeichnet."

In den folgenden Wochen bekommt Casapietra Sätze zu hören wie: Wenn ich zu Hause bin, küsse ich den Boden der Ukraine. "Der wollte hier gar nicht ankommen. Ich kann sogar verstehen, wie sehr man seine Freunde in diesem Alter vermisst." Als sich Casapietra besorgt ans Schulamt wendet, bekommt er als Antwort, dass Maxim mit diesen Problemen bei Weitem nicht der Einzige ist. "Ich hoffe auf die Schule und dass er durch den Kontakt zu anderen Ukrainern offener wird."

Seine Mutter hat diese Hoffnung verloren und überlegt bereits, ihren minderjährigen Sohn zurück in die Ukraine ziehen zu lassen: "Vielleicht muss er erst mal sehen, was er hier hatte", sagt seine Mutter. "Ich kann ihn nicht zwingen, dass er hierbleibt."

Krieg ins Gesicht gebrannt

Was Maxim erwarten würde, weiß Michael Müller. Der Vorsitzende des Vereins Partnerschaft Osteuropa ist erst seit zwei Wochen wieder zurück in Coswig. Zehn Tage hat allein die Fahrt in Maxims Heimatstadt Chernowitz gedauert – der direkte Weg blieb Müller versperrt: "Mein bisschen Russisch reichte nicht aus, um die Fragen an den Grenzstellen zu beantworten", so Müller, der zurückgeschickt wurde und über Rumänien einreisen musste.

Dort angekommen, schlägt ihm ein ganz anderes Elend, als in Krakowez (dem Dorf hinter der polnisch-ukrainischen Grenze, wo sich der Verein ebenfalls engagiert) entgegen: In die ehemals 250.000 Einwohner-Stadt seien aktuell 75.000 Ukrainer gestrandet. Ganz alte Männer sind neben Müttern und Kindern in Siebener-Zimmern untergebracht. Müller spricht von dramatischen Zuständen, manche seien bei seinem Besuch gar nicht erst aufgestanden. "Viele leiden unter heftigen Depressionen: Die meisten kommen mit nicht mehr als einem Koffer aus dem Donbass angereist. Da ist dann alles drin", berichtet Müller. "Dort sind Psychologen extrem gefragt: Der Krieg hat sich den Menschen ins Gesicht gebrannt."

In Sachsen ist das Publikum anders

Das spürt Iryna Didychuk als ausgebildete Diplompsychologin auch. Seit Casapietra in verschiedenen Ukraine-Hilfen-Gruppen nach Jobs für die zweifache Mutter angefragt hat, muss er sein Handy mehrfach täglich Didychuk weiterreichen. Der psychologische Beratungsbedarf unter den ukrainischen Geflüchteten ist enorm. Didychuk hilft, wo sie kann. Einen bezahlten Job, bei dem sich ihr fünfeinhalbjähriges Studium bezahlt macht, hat sie deshalb immer noch nicht gefunden. In Deutschland möchte die 37-Jährige in jedem Fall bleiben, schon allein, weil sie hier mit Putzen am Tag das verdient, was sie in der Ukraine als Psychologin im Monat verdient hat.

Die sechs Wochen mit der ukrainischen Familie arbeitet Casapietra nun in seinen Konzerten auf: "Mit der Hilfe von Iryna habe ich dieses Jahr zwei ukrainische Lieder ins Programm eingebaut." Und Ave Maria widmet der 52-Jährige den Frauen und Kindern, die in Butscha vergewaltigt, gedemütigt und in ihrem eigenen Garten erschossen wurden. "Das ist so schon ein berührendes Lied, wenn ich damit allen Opfern von Putins Kriegsverbrechen gedenke, wird es noch emotionaler. Und das soll es auch. Ich will auf die Ungerechtigkeit aufmerksam machen und dafür sensibilisieren."

In Sachsen fehle den Menschen teilweise die Offenheit dafür: "Ich habe es bislang nur in Dresden erlebt, dass ein Mann im Publikum aufgestanden ist und die Kirche mit der Bemerkung 'Wir sind in Deutschland, warum singt man dann nicht auf Deutsch' verlassen hat", sagt Casapietra. Auch mit Schnelltests haben es bei Konzerten im vergangenen Sommer keine Probleme gegeben, bis sich ein Zuschauer in Neustadt kein Stäbchen in den Mund stecken lassen wollte.

"Das ist schon auffällig", bedauert Casapietra, für den es aber ein Grund mehr ist, warum er sich auf sein Konzert in Meißen ganz besonders freut: "Mein Vater war Sachse und ich fühle mich ganz genau so: Deshalb möchte ich dort besonders darauf verweisen, wie groß die Welt ist; ukrainische und hebräische Volkslieder spielen und auch Imagine von Leonard Cohen singe ich nun mal auf Englisch – da muss mein Publikum durch."

Nachholtermin: Am 22. April 2023 singt Björn Casapietra "Hallelujah - Die schönsten Himmelslieder" in der Johanneskirche Meißen.