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„Den Opfern ein Gesicht geben“

Wer war Jürgen Hainz? Außer, dass er in Meißen geboren wurde, ist über ihn nichts bekannt. Stadtrat Andreas Stempel sucht nun nach Zeitzeugen.

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"Das Andenken an den Einzelnen bewahren": Meißens früherer Superintendent Andreas Stempel. Heute ist er für die CDU Mitglied des Stadtrats.
"Das Andenken an den Einzelnen bewahren": Meißens früherer Superintendent Andreas Stempel. Heute ist er für die CDU Mitglied des Stadtrats. © Claudia Hübschmann

Meißen. Die Lebensumstände von Jürgen Wilhelm Hainz thematisieren – das sieht ein Beschluss des Stadtrates vor. Der gebürtige Meißner war 1971 beim Versuch aus der DDR zu fliehen von Grenzsoldaten angeschossen worden und ein halbes Jahr später an den Folgen der Verletzungen verstorben. Für die aus CDU, FDP, Freien Bürgern und U.L.M. bestehende Großfraktion hatte Meißens früherer Superintendent Andreas Stempel diesen Antrag eingebracht.

Herr Stempel, was versprechen Sie sich von dieser Initiative?

Außer dem, was von Historikern im Forschungsverbund SED-Unrecht an der Freien Universität Berlin zu den Umständen seines tragischen Todes in Erfahrung gebracht wurde, ist kaum etwas über Jürgen Hainz bekannt. Er wäre heute so alt wie ich: Er ist im Oktober des Jahres 1950 geboren worden, ich einen Monat später. Wie ich ist er in Meißen aufgewachsen. Wenn ich an meine Kindheit und Jugend in Meißen und später in Zittau zurückdenke, kann ich erahnen, was ihn bewegt hat, die DDR verlassen zu wollen. Sicher spielte der Drang nach Freiheit dabei eine große Rolle. Das klingt natürlich sehr allgemein. Und deshalb halte ich es für wichtig, herauszufinden, wie Jürgen Hainz aufgewachsen ist, wie sein Alltag war, was ihn letztlich dazu bewogen hat, einen Versuch zum Überwinden der Grenze zu wagen – und das, obwohl jeder wusste, wie gefährlich das ist und dass es tödlich enden kann.

Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ich stamme aus einer Pfarrersfamilie. Meine vier Geschwister und ich haben im Alltag zu spüren bekommen, welche Folgen es für den Einzelnen hatte, als die neue DDR-Verfassung von 1968 die Grundrechte durch den Zusatz „im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung“ einschränkte. Ich erinnere mich an Schikanen, weil ich nicht bei den Pionieren oder in der FDJ war und weil ich später den Wehrdienst verweigerte und Bausoldat wurde. Ich habe aber auch erfahren, wie unterschiedlich sich Lehrer oder Behördenangestellte im Einzelfall verhalten haben. Als junger Pfarrer kam ich mit vielen in Kontakt, die der DDR ablehnend gegenüberstanden. Diejenigen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, verloren oft sofort ihre Arbeit. Bei der Kirche fand sich für sie eine neue Stelle, zum Beispiel als Friedhofsgärtner.

Mit Ihrem Vorschlag reagieren Sie und Ihre Stadtratskollegen aus der Großfraktion auf einen Vorstoß der AfD-Fraktion, die eine Schweigeminute und eine Gedenktafel vorgeschlagen hatte, um das Andenken an Jürgen Hainz zu bewahren.

Was bleibt von einer Schweigeminute in Erinnerung? Und was nützt lediglich der Name auf einer Gedenktafel? Uns geht es darum, das Andenken an den Einzelnen bewahren und aus der Geschichte zu lernen. Das Thema Flucht ist heute wieder auf der Tagesordnung, aber in anderen Zusammenhängen als vor 50 Jahren. Auch deshalb ist es wichtig, Geschichte aufzuarbeiten. So werden Ereignisse nacherlebbar, Personen anschaulich, Handlungsmotive nachvollziehbar und verständlich. Von Jürgen Hainz ist außer dem Geburtseintrag in Meißen nichts bekannt. Bislang gibt es nicht mal ein Foto. Wenn es gelingt, Erinnerungen von Freunden, Bekannten oder noch lebenden Angehörigen zusammenzutragen, wird es möglich sein, der Person ein Gesicht zu geben.

Wie soll das geschehen?

Der Beschluss ist mit einem Auftrag an das Rathaus versehen, die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Dies soll verbunden sein mit der Bitte an Zeitzeugen sowie alle, die Hinweise zur Biografie von Jürgen Hainz geben können: Bitte melden Sie sich! Gern kann man dafür meine Mail-Adresse nutzen. Ein Aufruf soll auch in Krostitz bei Leipzig gestartet werden, wo Jürgen Hainz als junger Mann bis zu seiner Flucht gelebt hat. Ich hoffe sehr, dass sich jemand finden lässt, der ihn oder dessen Familie kannte.

Wie soll das, was sich zusammentragen lässt, dann aufgearbeitet werden?

Ich habe den Meißner Stadtchronisten Dr. Claus-Dirk Langer gebeten, beim Sichten der eingehenden Dokumente behilflich zu sein. Zur weiteren Auswertung und Aufarbeitung hoffen wir auf die Unterstützung von Historikern der FU Berlin. Wenn es gelingt, einen Lebenslauf zu verfassen und diesen in Form einer Broschüre oder im Internet-Auftritt der Stadt zu veröffentlichen, wäre das ein konkreter Beitrag zur Aufarbeitung der jüngeren Geschichte.

Das Gespräch führte Harald Daßler.