Erstes deutsches Lehmziegelhaus in Meißen

Meißen/Radebeul. Der Polier des Baubetriebs Neuer aus Berthelsdorf bei Herrnhut macht es vor. Mit ruhiger Hand setzt er einen Lehmziegel neben den anderen. Der Spezialmörtel wird aufgebracht, der Ziegel eingepasst, mit der Wasserwaage justiert. Die gelb-braunen Quader unterscheiden sich von der Verarbeitung her nicht von ihren keramischen Vorbildern. Doch ihre Eigenschaften sind für das Hausbauen revolutionär.
Konzentriert beobachtet Prof. Dr.-Ing. Wolfram Jäger aus Radebeul die Szenerie. Er ist der Bauherr auf dem Grundstück oberhalb der Niederauer Straße in Meißen. Wie er zum Lehm gekommen ist? In seiner Antwort muss der Bauexperte etwas ausholen. 2005 habe ihn ein Hilferuf aus Bam im Iran erreicht. In den beiden Vorjahren war die historische Oasenstadt im Süden des Landes von verheerenden Erdbeben heimgesucht worden.

Die zentrale Zitadelle und die umliegenden Gebäude gelten als größter Lehmbaukomplex der Welt. Bei der Rekonstruktion des Unesco-Weltkulturerbes war der Rat des sächsischen Baustoffexperten der Technischen Universität Dresden gefragt. Dank eines Programms des Auswärtigen Amts konnte ein zentrales Gebäude der Zitadelle wiederaufgebaut worden: das Sistani Haus. Es handelt sich um ein typisches iranisches Wohnhaus einer Kaufmannsfamilie aus dem 18. Jahrhundert.
Nach umfangreichen Untersuchungen und praktischen Experimenten flossen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und angepasste Technologien in die Arbeiten ein. So wurden zunächst die bestehenden Reste mit Glasfaserstäben stabilisiert. Anschließend rekonstruierten Handwerker die Räume mit einem speziell entwickelten palmfaserbewehrten Lehmstein und umwickelten die Gewölbedecken und Gurtbögen mit Glasfasergewirk.
Baustoff lässt sich zu 100 Prozent recyceln
Die Arbeit in Bam habe ihn tief beeindruckt, sagt Jäger. Über Jahrhunderte, ja sogar über Jahrtausende hätten die Menschen dort mit Lehm riesige Bauwerke errichtet. Dieses Erlebnis gab ihm entscheidende Impulse. Auch in Europa wird Lehm seit Jahrtausenden intensiv als Baustoff genutzt. In vielen Gegenden kann das Material unmittelbar vor Ort abgebaut werden. Bis heute kommt bei der Restaurierung von historischem Fachwerk Lehmputz zum Einsatz. Bewohner von lehmverputzten Räumen schwärmen häufig über das perfekte Raumklima. Stampflehmhäuser sind der neuste Schrei bei gut betuchten Bauherren.
- Die kurze Dokumentation Bauen mit Lehm zeigt gut zusammengefasst die Vorteile dieses Baustoffs.
Der Radebeuler verfolgt mit seinem Modellhaus in Meißen allerdings ein ganz anderes, nachhaltiges Ziel: Er möchte praktisch beweisen, dass sich aus industriell gefertigten Lehmziegeln tragende Wände und schließlich ein ganzes Haus errichten lässt. Aber nicht nur das: Gleichzeitig könne sowohl bei der Produktion der Ziegel als auch bei einem späteren Rückbau des Gebäudes massiv Energie eingespart werden, so Jäger.
Als Partner für diesen Bereich ist der Geschäftsführer des bayerischen Ziegelwerks Girnghuber, Claus Girnghuber, nach Meißen gekommen. Seine Urgroßmutter gründete das mittelständische Unternehmen. Die Produkte finden sich an so renommierten Bauten wie dem Tate-Modern-Museum in London oder dem sächsischen Landesarchiv. Gerade die mittelständische Größe ermögliche es seinem Betrieb, innovativ zu sein und Neues auszuprobieren, so Girnghuber.

Der Unternehmer steht neben einem eingeschweißten Stapel von Lehmziegeln. In Festigkeit, Form und Größe sind diese nicht von ihren keramischen Pendants zu unterscheiden. Im Herstellungsprozess lassen sich jedoch rund 70 Prozent der Energie einsparen. Der teure Brennprozess fällt weg. Zum Trocknen der Lehmziegel wird die Abluft aus dem Brennvorgang genutzt. Muss ein Lehmhaus abgerissen werden, lässt sich das Material komplett recyceln. Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit spielten auch in seiner Branche eine immer größere Rolle, so der Bayer. Möglicherweise entwickle sich mit den hellbraunen Quadern eine massentaugliche Alternative zu den aufwendigen keramischen Produkten.
Haus liefert den Strom für das E-Auto
Vor der Baustelle hat Jägers Mitarbeiter Raik Hartmann ein Modell des Lehmhauses platziert. Es folgt dem Entwurf des Architekten Marco Zürn. Der Schweizer, welcher das Vorhaben begeistert als Teil eines neuen Bauhauses bezeichnet, hat das Gebäude so konstruiert, dass die Lehmwände komplett vor eindringender Nässe geschützt sind. Nach unten hin sichern das Betonfundament und eine Lage traditioneller Ziegel ab. Die Fassade wird mit einer Hanfdämmung und Lärchenholz abgedichtet. Das weit vorkragende Dach hält den Regen ab. Im Inneren liegen die Wasserleitungen in wasserdichten Kanälen. Bäder und WCs sind übereinander angeordnet.
Ingenieur Raik Hartmann war bei der Vorbereitung der Vorhabens für die Details und die entwurfstechnischen Kniffe zum Bau verantwortlich. Er organisiert den Bauablauf und die Gewerke. Seinen Angaben zufolge wird das fertige Gebäude mehr Energie produzieren, als es verbraucht, und zusätzlich das E-Auto der Familie mit Strom versorgen. Professor Jäger möchte alle diese Eigenschaften in einem größeren Rahmen verstanden wissen. Auch der Bau müsse seinen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten, so der Radebeuler. Derzeit würden noch zu viele Ressourcen und Energie verbraucht. Hier in Meißen wollen er und seine Mitstreiter zeigen, dass es anders geht.