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Meißen: 25.100 Arbeitnehmer verdienen weniger als 12 Euro

Jeder Vierte im Kreis würde vom sprunghaften Mindestlohn-Anstieg profitieren. Letztlich steigen auch höhere Einkommen. Wird im Herbst alles teurer?

Von Marvin Graewert
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Vor allem Arbeitnehmer im Gastgewerbe würden von der Mindestlohnerhöhung besonders profitieren: Der Medianlohn lag 2020 bei weniger als 11 Euro.
Vor allem Arbeitnehmer im Gastgewerbe würden von der Mindestlohnerhöhung besonders profitieren: Der Medianlohn lag 2020 bei weniger als 11 Euro. © SAE Sächsische Zeitung

Meißen. Es war das zentrale Wahlversprechen der SPD: Nachdem der Mindestlohn jahrelang kontinuierlich angehoben wurde, soll die Lohnuntergrenze im Oktober von derzeit 9,82 auf 12 Euro erhöht werden. Neben Thüringen ist in Sachsen die Chance am höchsten, unter den angepeilten Mindestlohn zu fallen. Im Landkreis Meißen betrifft das besonders viele Arbeitnehmer.

25.100 Menschen aus dem Kreis würden von der Mindestlohnerhöhung profitieren. Das geht aus einer Analyse des Pestel-Instituts im Auftrag der Gewerkschaft NGG hervor: Bei 89.176 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten (Stand: Mitte 2021) im Kreis wäre das gut jeder vierte Beschäftigte (28 Prozent). Die Kaufkraft im Landkreis würde schätzungsweise um 43,6 Millionen Euro ansteigen. Bundesweit verdienen fast 80 Prozent aller Minijobber und 39,2 Prozent aller Teilzeit-Angestellten weniger als 12 Euro.

Vor allem Frauen profitieren

Selbst unter den 57.800 Vollzeitbeschäftigten im Kreis, ermittelte die Arbeitsagentur für fast 20 Prozent einen durchschnittlichen Stundenlohn von unter 12 Euro im Jahr 2020. Zwar verfälschen Arbeitnehmer, die nur wenige Wochen oder Monate gearbeitet haben diese Erhebung, da das Jahreseinkommen als Grundlage dient. Allerdings geben die Daten einen guten Überblick, wer von der Erhöhung profitieren würde.

Während 16,7 Prozent der Männer in Vollzeit im Kreis Meißen monatlich unter 2.000 Euro verdienten, waren es 27,3 Prozent der Frauen. Auch unter den über 55-Jährigen in Vollzeit verdienten 20,3 Prozent weniger als 2.000 Euro brutto. Unter den 25- bis 55-Jährigen sind es 18,2 Prozent. Bei Arbeitnehmern ohne Berufsabschluss lag der durchschnittliche Bruttolohn bei 42,8 Prozent unter 2.000 Euro, was einem Stundenlohn von 11,54 entspricht. Selbst mit einem anerkannten Berufsabschluss würden 20,7 Prozent ab Oktober mehr Geld verdienen, sowie 21,1 Prozent der Fachkräfte. Außerdem würden Beschäftigte in kleineren Betrieben ohne Tarifbindung ebenfalls zu den Hauptbegünstigten zählen, wie aus einer umfangreichen Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervorgeht.

Die größten Arbeitgeber des Landkreises wären von dieser Erhöhung kaum betroffen: Beispielsweise bei Goodyear, Koenig & Bauer, Mannesmann und Wacker Chemie werden alle Mitarbeiter nach Tarif bezahlt – eine Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro hätte hier keinerlei Auswirkungen. Im Gegenteil, der Gabelstapler-Hersteller Jungheinrich mit Standort in Klipphausen geht davon aus, dass sich auch 2022 die Löhne über alle Branchen hinweg nach oben bewegen würden.

Anders sieht es vor allem für Berufe in der Landwirtschaft aus, dort liegt der mittlere, also der Median-Brutto-Lohn bei 2.091 Euro. Wirtschaftliche Dienstleistungen, wie unter anderem Reinigungskräfte im Kreis, werden mit 1.981 Euro noch schlechter vergütet. Im Gastgewerbe sind es 1.776 Euro. Die Meissner Schwerter Privatbrauerei wollte keine Aussage darüber treffen, wie viele Mitarbeiter von einer Mindestlohn-Erhöhung auf 12 Euro betroffen wären.

Auswirkungen auf gesamte Lohnstruktur

Vor der Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro im Jahr 2015 wurden Beschäftigungsverluste vorausgesagt. Tatsächlich sind seither die Stundenlöhne für Geringverdiener deutlich gestiegen und viele Minijobs wurden in richtige Arbeitsverhältnisse umgewandelt. In Sachsen hat das zum Beschäftigungsaufbau beigetragen: Von 2014 auf 2015 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 18.500 und im Folgejahr um weitere 25.000 Menschen gestiegen. Seit Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 sind in Sachsen bis Sommer 2021 über 93.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden.

Allerdings fiel die Einführung des Mindestlohns in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Heute sind viele Unternehmen von der Corona-Krise gebeutelt – die wirtschaftliche Entwicklung ist fragil und von der Inflation bedroht.

Sascha Dienel, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Region Meißen, hat aus ersten Gesprächen mit Unternehmen zur Mindestlohnerhöhung den Hinweis bekommen, dass nicht nur der Mindestlohn angepasst werde, sondern auch die Mitarbeiter mit einer höheren Vergütung eine Anpassung einfordern würden. "Dies hat selbstverständlich eine Auswirkung auf die gesamte Gehaltsstruktur des Unternehmens. Wenn diese Gehalts-/Lohnanpassungen nicht an den Kunden weitergegeben werden, könnte das Geld für andere Zwecke fehlen", befürchtet Dienel.

Auch das Pestel-Institut wies in der eingangs erwähnten Studie auf mögliche Auswirkungen des höheren Mindestlohns hin. Es sei davon auszugehen, dass auch den Arbeitgebern weiter an einer Differenzierung der Löhne gelegen sein müsse, um zum Beispiel Anreize für Fortbildungen zu geben: Wenn der geringste mögliche Verdienst bei 12 Euro in der Stunde liegt, erfordert eine Staffelung der Löhne im Umkehrschluss, dass die, die bislang 12 Euro verdient haben, künftig auch mehr Lohn bekommen. "Sicherlich ist es sehr angenehm, wenn die Kaufkraft in der Region sich erhöht. Der Sprung über 20 Prozent erscheint aber erst einmal sehr hoch", sagt Dienel, der sich vor allem fragt, warum es eine Mindestlohnkommission gibt, wenn dann eine politische Entscheidung getroffen wird.

8-Stunden-Tag nicht mehr bezahlbar

Während bei der Debatte um die Mindestlohnerhöhung meist große Unternehmen im Fokus stehen, betrifft es Kleinunternehmer wie Sven Näther ganz besonders. Der Chef des Elbetierparks Hebelei würde seinen Angestellten gerne mehr Geld bezahlen – gebeutelt von der Coronakrise sei der Zeitpunkt denkbar ungünstig. Wie er künftig 12 Euro bezahlen soll, bleibt ein Rätsel: "Entweder ich muss die Eintrittspreise erhöhen oder die Arbeitszeiten verändern."

Wie Näther würden viele Kleinunternehmer vor der Entscheidung stehen, ihre Angestellten künftig nur noch sechs statt acht Stunden am Tag zu beschäftigen, weil sie sich alles andere nicht leisten könnten. "In der Gastronomie muss ich auf jeden Fall die Preise erhöhen", ist sich Näther sicher, da durch den Mindestlohn nicht nur für den Kunden alles teurer werde, sondern auch die Preise für Futter, Tierarzt und Material ansteigen würden.