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Mit Blaulicht zu Geburt und Tod

Dr. Tilo Driesnack ist in Kamenz Notarzt aus Leidenschaft. In seiner Arbeit hat er mit dem Beginn und dem Ende des Daseins zu tun.

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© Ines Eifler

Von Ines Eifler

Kamenz. Wenn sich der Pieper bei Dr. med. Tilo Driesnack meldet, ist Eile geboten. Dann verlässt der Notfallmediziner, so schnell es geht, die Intensivstation im ersten Obergeschoss des Malteser Krankenhauses St. Johannes, zieht sich die Notarztweste über und eilt zum Einsatzfahrzeug hinter der Notfallambulanz. „Eine Schwangere mit Blasensprung“, steht im Textfeld des Piepers, „Wehen alle fünf Minuten, Blutungen“. Nun bedarf es noch eines kurzen Telefonates, und Hebamme Bernadette Werner begleitet das Rettungsteam. Binnen drei Minuten nach Eingang des Notrufs sind sie unterwegs. Antje Drahtfach von der Rettungswache Kamenz steuert den Wagen. Sie schaltet Blaulicht und Sirene ein und fährt bald mit hoher Geschwindigkeit durch die Stadt. Die wenigsten Pkw fahren rechts ran. Antje Drahtfach muss hellwach sein und jederzeit mit der Unaufmerksamkeit anderer Verkehrsteilnehmer rechnen.

Anne Steinborn musste vom Notarzt zur Entbindung ins Krankenhaus gebracht werden. Sie ist glücklich über ihren kleinen Paul.
Anne Steinborn musste vom Notarzt zur Entbindung ins Krankenhaus gebracht werden. Sie ist glücklich über ihren kleinen Paul. © Ines Eifler

Wenige Minuten später sind Notarzt und Hebamme vor Ort, der Rettungsdienst ist auch schon da. „Bernadette, ich bin so froh, dass Sie kommen“, sagt die junge Frau unter Schmerzen, sichtlich erleichtert, genau die Hebamme zu sehen, die sie schon aus dem Geburtsvorbereitungskurs kennt. Hebamme und Notarzt beruhigen und unterstützen sie. Die Rettungsassistenten Yvette Jürgel und Sandro Maiwald handeln schnell, helfen der Schwangeren auf die Trage und bringen sie im Rettungswagen vorsichtig in den Kreißsaal des Malteser Krankenhauses St. Johannes.

Fast 10 000 Einsätze gefahren

Eine Geburt zu begleiten, gehört nicht zu den häufigsten Erlebnissen eines Notarztes. Dreimal in seinen über 20 Jahren als Notarzt wurde Dr. Tilo Driesnack hinzugerufen. „Und einmal kam das Kind direkt vor der Tür unseres Krankenhauses zur Welt“, erinnert sich der 50-Jährige.

Die häufigsten Gründe für einen Einsatz seien Atemnot, Schlaganfälle, Schmerzen, Hausunfälle, manchmal Kindernotfälle. Die Mehrzahl der Erkrankungen erfordert eine stationäre Einweisung. Ein Teil der Patienten werde ins Malteser Krankenhaus St. Johannes gebracht oder, je nach Symptomatik, in eine Spezialklinik. Bei Bewusstlosigkeit, Pulslosigkeit und Atemstillstand beginnen die Rettungskräfte mit leitliniengerechten Reanimationsmaßnahmen.

Dr. Tilo Driesnack ist Anästhesist am Malteser Krankenhaus St. Johannes. 1995 hat er hier als Arzt im Praktikum und Assistenzarzt begonnen. Seit 2005 ist er Oberarzt und nun Leitender Oberarzt und Leiter der Notfallambulanz. Er führt Narkosen in den OP-Sälen der Klinik durch, betreut Patienten auf der Intensivstation, strukturiert die Abläufe in der Notfallambulanz und schreibt die Notarztpläne. Außerdem ist er selbst leidenschaftlicher Notarzt. Fast 10 000 Einsätze liegen hinter ihm. An acht bis zehn Tagen im Monat ist er in der Woche tagsüber als Notarzt im Einsatz, außerdem in vielen Nächten und an Wochenenden, wenn andere Freizeit haben.

Zwei große Vorbilder

„Notarztfahren ist auch mein Hobby“, sagt er. Das wollte Tilo Driesnack schon als Kind. Sein Onkel, Hausarzt in Schwepnitz, war viel für die Schnelle Medizinische Hilfe (SMH) im Einsatz. „Das hat mich so begeistert, dass ich Medizin studieren wollte.“

Als er nach seinem Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der TU Dresden ans Kamenzer Krankenhaus kam, fand er bald noch ein Vorbild: den Oberarzt der Anästhesie-Abteilung und Notfallmediziner Dipl.-Med. Udo Fabian. „Sein Arbeitsethos habe ich bewundert.“ Dr. Driesnack erinnert sich, mit wie viel Einsatz Udo Fabian alles darangab, um Menschenleben zu retten, und welche Lücke es riss, als er 2004 auf tragische Weise ums Leben kam.

Aber Dr. Driesnack trat Udo Fabians Erbe an. Nun war er es, der die Notarzteinsätze koordinierte, die wochentags zu über 90 Prozent von Ärzten des Kamenzer Krankenhauses übernommen werden. Nun war er es, der noch mehr Freizeit opferte, um Leben zu retten. Damals gab es Zeiten, in denen nachts und an den Wochenenden nur vier Notärzte im Einsatz waren. „Heute sind wir zum Glück wieder mehr als zehn“, sagt Dr. Driesnack. Dazu gehören der Chirurg Dr. Maik Schimmang und der Anästhesist Dr. Christoph Büttner, beides Oberärzte am Malteser Krankenhaus, sowie Ärzte der Bundeswehr, des Landratsamts, weiterer Krankenhäuser und engagierte niedergelassene Ärzte. In ihrer Freizeit, nachts und an Wochenenden, decken sie den gesamten Bereich des Notarztstandortes Kamenz ab.

Im Notfall für den Patienten da zu sein und Menschenleben zu retten, das macht für Tilo Driesnack seinen Beruf und seine Freude daran aus. Manchmal aber ist Rettung nicht mehr möglich. Auch das gehört zu den regelmäßigen Erlebnissen eines Notarztes.

Mit Tempo über die Landstraße

Als sich der Pieper zum zweiten Mal meldet, machen sich Dr. Driesnack und Antje Drahtfach von der Rettungswache erneut auf den Weg. „Ein Mann hinter verschlossener Tür, kein Lebenszeichen“, steht auf dem Display. Wieder geht es durch Kamenz und dann mit Tempo über die Landstraße. In einem der nahen Dörfer machen sie Halt. Notfallsanitäter Frank Trepte und Rettungsassistent Uwe Drahtfach sind bereits eingetroffen.

Die Tür des kleinen Hauses steht offen, ein Bekannter aus einem der Nachbardörfer hat den 70-Jährigen gefunden. „Anfang der Woche haben wir noch telefoniert“, sagt er. „Heute wollte ich ihm helfen, sein Auto zu reparieren. Wer weiß, wie lange er schon so liegt.“ Dr. Driesnack schaut sich den Verstorbenen an. Leichenflecken, Leichenstarre. „Das wird heute Nacht passiert sein“, sagt er. Ein Anruf im Krankenhaus ergibt, dass der Tote verschiedene Erkrankungen hatte. Dr. Driesnack hält einen Herz-Kreislauf-Stillstand aufgrund eines Blutsturzes für wahrscheinlich. Dennoch muss er entscheiden, ob der Tod auch auf unnatürliche Weise eingetreten sein könnte und die Polizei gerufen werden muss.

„Besonders wenn Personen verstorben aufgefunden werden, gilt es Fremdverschulden auszuschließen.“ Er stellt dem Bekannten des Toten ein paar Fragen, lässt sich erzählen, in welchem Verhältnis die beiden zueinanderstanden, erfährt, dass der Tote sonst nur zu wenigen Menschen Kontakt hatte. Kinder in den alten Bundesländern, eine frühere Freundin in einer der nächsten Städte. Eine junge Familie, die ihm vor Kurzem sein Haus abgekauft hat. Dr. Driesnack ruft die Polizei. Er dokumentiert alles, was er gesehen hat, und stellt eine vorläufige Totenbescheinigung aus.

Zurück im Krankenhaus, bleibt der Pieper für die nächste Stunde still. Und Dr. Tilo Driesnack hat Zeit, im Kreißsaal anzurufen. „Aha, sehr gut“, sagt er, bevor er auflegt. Die Schwangere, zu der er am Morgen mit Blaulicht gerufen wurde, hat inzwischen einen gesunden Jungen geboren. „So dicht liegen Freude und Leid, Leben und Tod beieinander“, sagt Dr. Driesnack, „Und das an ein- und demselben Tag.“