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Mit Chopin und Arschtritten

Die Leichtathleten haben das Publikum in Berlin verzaubert und die EM zu einem kleinen Sommermärchen gemacht. Die SZ erzählt sechs Geschichten.

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Von Michaela Widder, Berlin

Im Stadion und an den TV-Geräten haben viele auf den Abend mit Diskus-Olympiasieger Robert Harting hingefiebert. Es zeugte von seinem Ehrgeiz, dass er mit seinem letzten großen Auftritt auf der internationalen Bühne nicht ganz zufrieden war und daher leise abtrat. Platz sechs, gehandicapt von einer Knieverletzung, aber gefeiert von seinen Berliner Fans. Es war auch ohne Medaille ein würdiger Abschied und ein besonderer Moment im Olympiastadion.

Arthur Abele nutzte die Gunst der Stunde.Foto: dpa/Hendrik Schmidt
Arthur Abele nutzte die Gunst der Stunde.Foto: dpa/Hendrik Schmidt © dpa
Diana Asher-Smith sprintete am schnellsten.Foto: dpa/Sven Hoppe
Diana Asher-Smith sprintete am schnellsten.Foto: dpa/Sven Hoppe © dpa
Christin Hussong schockte die Konkurrenz.Foto: dpa/Michael Kappeler
Christin Hussong schockte die Konkurrenz.Foto: dpa/Michael Kappeler © dpa
Das Ingebrigtsen-Trio (v.l.) Hendrik, Jakob und Filip. Foto: dpa/S. Hoppe
Das Ingebrigtsen-Trio (v.l.) Hendrik, Jakob und Filip. Foto: dpa/S. Hoppe © dpa
Sandra Perkovic holte den fünften EM-Titel.Foto: dpa/Michael Kappeler
Sandra Perkovic holte den fünften EM-Titel.Foto: dpa/Michael Kappeler © dpa

Die großen Geschichten bei der EM haben andere geliefert. Es gab neue deutsche Gesichter, eine außergewöhnliche Läuferfamilie aus Norwegen und eine Diskuswerferin, die als erste Leichtathletin fünf kontinentale Titel in Folge gewann.

Die komponierende Weitspringerin

20 Jahre nach ihrem letzten EM-Titelgewinn erlebt Heike Drechsler als Kampfrichterin den goldenen Sprung ihrer Nachfolgerin in die Sandgrube hautnah mit. „Bis zum letzten Sprung habe ich sie gar nicht wahrgenommen“, erzählt Malaika Mihambo: „Dann hatten wir aber Blickkontakt, und sie hat mir zugenickt und gelächelt.“ 6,75 Meter reichen bei Gegenwind zu ihrem ersten großen Triumph. „Es war nicht optimal, doch es zählt nur der Titel. Wenn von der Konkurrenz nichts kommt, zeige ich auch nicht das Beste.“

Mihambo kommt aus einem kleinen Verein und wird bei der LG Kurpfalz seit mehr als zehn Jahren von Ralf Weber ehrenamtlich betreut. Der Sportlehrer ist ein Zahlenfreak, sie hat dagegen ein Faible für Noten, und spielt seit 2016 Klavier. Mit Sonaten von Frédéric Chopin schult sie ihr Rhythmusgefühl für den Anlauf. „Es hilft bei der Koordination, wenn man mit zwei Händen unabhängig voneinander spielt.“ Bei einem Wettbewerb ihrer Musikschule hat Mihambo sogar einen Preis für ein selbst komponiertes Stück gewonnen – und in Berlin nun Gold.

Der Schnellste der schnellen Brüder

Plötzlich hat der Jüngste der norwegischen Läuferfamilie das Sagen. Jakob Ingebrigtsen, 17 Jahre, triumphierte 24 Stunden nach seinem Sieg über 1 500 Meter auch über 5 000 Meter, sein Bruder Hendrik wurde Zweiter. „Hauptsache, wir haben Gold gewonnen“, betonte der 27 Jahre alte Henrik. Die drei Ingebrigtsen-Brüder sind seit Jahren erfolgreich unterwegs: Henrik, der mit dem Schnauzer, war 2012 1 500-Meter-Europameister, gewann 2014 in Zürich Silber und 2016 in Amsterdam Bronze, als der „mittlere“ Filip, 25, siegte. Das größte Talent ist aber Jakob, er lief kürzlich beim Diamond-League-Meeting in Monaco die 1 500 Meter in 3:31,18 Minuten. Nie war ein Athlet in seinem Alter schon so schnell, selbst kein Afrikaner.

Die Erfolge des Trios macht die Konkurrenz misstrauisch. Es kommen immer wieder Spekulationen auf, was auch daran liegt, dass ihr Vater Gjert keinerlei Trainererfahrung haben soll. Er ist eigentlich im Logistikgewerbe tätig und betreut von Beginn an seine Söhne selbst. Das aber sehr erfolgreich.

Die deutsche Speerwurf-Wand

So stark in der Welt wie im Speerwerfen sind die deutschen in keiner anderen Disziplin. Sie führen die Weltbestenliste an, und man hätte sich vorher nicht festlegen wollen, wer am Ende aus dem Trio oben steht. Es war der Wettkampf von Thomas Röhler. Der Olympiasieger aus Jena zeigte einen Weltklasse-Wurf nach dem anderen, und Andres Hofmann gewinnt als Zweiter seine erste internationale Medaille. Der aus Dresden stammende Weltmeister Johannes Vetter ging diesmal leer aus.

Viel überraschender ist der Sieg von Christin Hussong. Mit ihrem ersten Wurf und Meisterschaftsrekord von 67,90 Meter schockte sie die Konkurrenz und schob sich auch auf Platz drei der ewigen deutschen Bestenliste vor. Ihre Weite hätte sowohl bei der WM 2017 als auch bei Olympia 2016 zu Gold gereicht. Für ihren Erfolg hatte Hussong auch mit den Männern zusammengearbeitet. „Wir waren gemeinsam im Trainingslager in Südafrika“, sagte Hussong, die von ihrem Vater trainiert wird: „Das ist eine Gemeinschaftsaktion.“

Diskus ist, wenn eine Kroatin gewinnt

Diesmal kann man Sandra Perkovic noch nicht einmal anlasten, dass das Diskuswerfen der Frauen seit Jahren ziemlich langweilig ist. Bei der EM machte es die 28-jährige Kroatin ungewöhnlich spannend. Sie kam überhaupt nicht in den Wettkampf rein. Bis zum vierten Versuch führte deshalb Nadine Müller, erst dann segelte Perkovics Scheibe auf die Goldweite von 67,62 Meter. Sie holte damit ihren fünften Titel bei Kontinental-Meisterschaften – und hat in puncto Goldmedaillenzahl zu Langstreckenläufer Mo Farah und Weitspringerin Heike Drechsler aufgeschlossen. Hinzu kommen zwei WM-Titel 2013 und 2017.

Die deutschen Werferinnen Müller und Shanice Craft holten sich Silber und Bronze. „Ich habe gezeigt, was ich kann. Jetzt fahre ich mit Silber nach Hause, ich bin superhappy. Die letzten zwei Jahre waren nicht einfach, deshalb ist das eine spezielle Silbermedaille“, sagte Müller, die aus Leipzig stammt und 2014 ihre Lebensgefährtin geheiratet hatte. Es lief in diesem Jahr nicht gut für die Altmeisterin, die im Frühsommer an einer schmerzhaften Rückenverletzung laborierte. Der EM-Start hing sogar am seidenen Faden.

Für König Arthur schlägt die Stunde

Alle sprachen über den Franzosen Kevin Mayer und seinen Weltrekordversuch im Zehnkampf. Am Ende der zwei Tage jubelte aber ein anderer – und der kam aus Deutschland. Für Arthur Abele war es der größte Erfolg seiner langen und mehrfach unterbrochenen Karriere, noch nie hatte er eine große Medaille im Zehnkampf gewonnen. In diesem Jahr, wo er schon mit einer Gesichtslähmung und Verdacht auf einen Schlaganfall im Winter ins Krankenhaus kam, kämpfte er sich stark zurück – und nach ganz oben. „Ey, wie viele Anläufe, wie viele Niederschläge, wie viele Rückschläge, Arschtritte, wie viele Trainingseinheiten und Reha-Maßnahmen. Unfassbar“, sagte Abele, der die Gunst der Stunde und den Ausfall des Top-Favoriten nach drei ungültigen Versuchen im Weitsprung nutzte.

Sprint-König mit Köpfchen

Seit Jahren gilt Dina Asher-Smith als größtes Talent auf den Kurzstrecken in Europa. Mit 13 war die Britin die Weltbeste über 300 Meter. In Berlin hat sie endgültig den Thron der Sprintkönigin erklommen. Als Jahresschnellste über 100 und 200 Meter war die 22-Jährige angereist – und gewann beide Titel mit britischem Rekord. In 10,85 Sekunden holt sie Gold vor der deutschen Frohnatur Gina Lückenkemper. Über die doppelte Distanz siegte sie in Weltjahresbestzeit von 21,89 Sekunden vor der zweimaligen Weltmeisterin Dafne Schipper aus Holland. Und zum Abschluss gab es noch Gold mit der Staffel. Asher-Smith ist nicht nur sportlich ungewöhnlich begabt. Sie studiert am renommierten King’s College in London Geschichte und hat ihren Bachelor mit Bestnoten abgeschlossen.