Von Jörg Stock
Freital/Pirna. Wie alt der hölzerne Knabe wohl ist? Ute Patzig weiß es nicht. Uralt jedenfalls. „Mein Vater hat gesagt, er ist das Kostbarste, was er hat.“ Wenn das stimmt, ist es ein Wunder, dass die Steuerfahnder ihn damals nicht beschlagnahmt haben. Seit Ute Patzig denken konnte, hing der „Engel“ an der Schlafzimmertür und wachte über den Frieden in der Wohnung. Am ersten Märzmorgen des Jahres 1983 war es mit dem Frieden vorbei. Ute, damals Anfang zwanzig und gerade mit der kleinen Tochter auf Besuch, schreckte hoch. Die Mutter stand im Zimmer: „Steh auf, die Kripo ist da!“


Ute Patzig lebt in ihrer Pirnaer Altstadtwohnung fast wie im Museum. Antike Möbel, altes Meißner, Gemälde, Bleiglas – Erinnerungen an ihren Vater, den Freitaler Antiquitätenhändler und Maler Gerhard Patzig. Das Kanapee mit Blaudruckwäsche aus Leinen hat er eigenhändig gebaut, aus Teilen einer Wäschemangel. Bis zuletzt gehörte es zu seinem Hausrat. Jetzt steht es bei Ute Patzig in der Wohnküche zusammen mit dem wuchtigen Bauernstuhl, in dem ihr Vater am liebsten saß und sich sinnierend den Bart strich. Ute Patzig braucht die alten Sachen um sich rum. „Sonst geht bei mir ein Stück Leben kaputt.“
Kaputtes Leben – das ist das Stichwort im Fall Gerhard Patzig. Er gehörte zu den „Dresdner sechs“, den sechs Antiquitätenhändlern, die in den 1980ern vom Staat mit Steuerverfahren überzogen und praktisch enteignet wurden. Patzigs Ladeninventar und große Teile seines Hausrats kassierten die Behörden ein, zum Ausgleich seiner Steuerschulden. Die Kunst & Antiquitäten GmbH aus dem Dunstkreis Schalck-Golodkowskis verkaufte alles in den Westen. Die Devisen ließen die DDR noch ein klein wenig länger leben. Patzig hingegen verlor seine Existenz. Er hat nie groß darüber gesprochen, sagt seine Tochter. Doch wer ihn kannte, der wusste, wie weh ihm der Verlust seines Lebenswerks tat.
Geboren 1927 in Freital-Burgk, zeigt Gerhard Patzig früh Talent fürs Zeichnen. Er will Marineoffizier werden. Doch mit dem Weltkrieg endet auch seine Karriere auf See. Patzig wendet sich der Kunst zu, lernt Grafiker, zeichnet für Geld. Ab 1954 führt er einen Laden für Kunst und Antiquitäten in Freital. Später nennt er sein Geschäft auf der Dresdner Straße 76 „Haus der Volkskunst“. Es ist Verkaufsschau, Museum, Galerie und Werkstatt und außerdem der Treffpunkt für lokale Künstler.
Durch Patzig wird Freitals miefige Magistrale zu einer der besten Adressen für Nostalgiker in der DDR. Hier kaufen heimische Prominente, aber auch Stars aus dem Westen wie Katja Ebstein, Cindy & Bert, Richard Clayderman, sogar Louis Armstrong. Eines Tages kommt eine kleine Frau in Lederkluft, die Suzi Quatro heißt, und sich die Nase am Schaufenster platt drückt. Aber Patzig macht gerade Mittagspause. So verpasst seine Tochter Ute einen amerikanischen Rockstar. Heute lacht sie darüber, damals war ihr zum Heulen: „Ich dachte nur: Das halt’ ich im Kopf nicht aus!“
Trotz Erfolg bodenständig
Gerhard Patzig mochte vor allem Bauernmöbel und künstlerisch gefertigte Gebrauchsgegenstände. Zu alten Schränken, Truhen, Schüsseln, Krügen, Kannen, Backformen und Bettgestellen empfand er eine fast kindliche Liebe. Beim Einkauf nutzte er den Sog der Scheine. Fuhr er aufs Land – immer mit Chauffeur, denn er hatte keine Fahrerlaubnis – führte er eine längliche Ledertasche bei sich, die einmal Hebammenbesteck enthalten hatte, und die nun mit Banknoten gefüllt war. Damit setzte er sich an die Stammtische der Dorfkneipen. Hatte er einem sein altes Möbel abgekauft, erinnerten sich auch andere an ähnliche Stücke auf ihren Dachböden – eine Kettenreaktion, an deren Ende Patzigs Vehikel schwer beladen heimwärts tuckerte.
Ute Patzig beschreibt ihren Vater als einen liebevollen Menschen, der es gut meinte mit allen. Sicher, er war aufs Geschäft bedacht. Aber er hätte keinen übern Tisch gezogen, sagt sie. Die Leute vertrauten ihm, auch deshalb, weil er trotz des Erfolgs bodenständig geblieben war, nicht protzte. Die Patzigs zahlten Miete an die KWV und im Sommer fuhren sie wie alle anderen an die Ostsee. Ute bekam nicht mal Taschengeld, musste immer fragen. Meistens aber hatte ihr Papa die Spendierhosen an. Noch heute denkt sie an die endlosen Runden im Autoscooter auf dem Rummel am Dresdner Fucikplatz. Und wenn die Münzen alle waren, gab es eben neue.
Was genau der Auslöser dafür war, dass an jenem verhängnisvollen Märzmorgen Steuerfahnder, Kriminalpolizisten und Schätzer der Berliner Kunst & Antiquitäten GmbH Gerhard Patzig beim Brötchenholen abpassten und überfallartig seine Wohnung besetzten, mit klappernder Schreibmaschine alles von Wert vermerkten, und bis Jahresende das meiste, auch aus dem Freitaler Laden, abholten, ist unklar. Kenner der Materie sagen, dass der klamme Staat seine Steuerfahnder gezielt zur Beschaffung hochwertiger Waren für den West-Export benutzte und regelrecht Jagd machte auf die privaten Sammler und die Händler von Antiquitäten und edlem Trödel. In der Regel fanden die Ermittler auch genug Beweise, um den Betroffenen ihren Besitz wegzupfänden.
Gerhard Patzig lasteten sie an, jahrelang zu wenig Steuern gezahlt zu haben, insgesamt fast eine halbe Million Mark. Das Urteil: zwei Jahre und zehn Monate Haft und 75 000 Mark Strafe. Die Haft wurde später in Bewährung umgewandelt. Ute Patzig kann den Vorgang noch immer nicht fassen. Sie hält die Vergehen, die ihr Vater damals teilweise gestand, für konstruiert. Dreißig Jahre habe er den Laden geführt, mit Betriebsprüfungen und allem Drum und Dran. „Und plötzlich sollte das alles nicht mehr stimmen?“
Gerhard Patzig ließ die Dinge ruhen. Auch nach der Wende. Er stellte keine Anträge, wollte keine Stasi-Akten sehen. Er wollte Frieden, Frieden fürs Malen, das seit dem Desaster sein Lebenszweck geworden war. Diesen Herbst wäre er 90 geworden. Doch sein Herz ist schon 2009 stehengeblieben. Patzigs legendärer Laden wurde 2001 abgerissen. Wie als Rache stürzte das Gerüst der Abbruchkolonne eines Tags mitten auf die Straße. Stundenlang drehte sich auf Freitals Magistrale kein Rad mehr.