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Unbeugsam im Mittelmeer

Das war 2018: Acht Tage haben das Leben von Claus Peter Reisch auf den Kopf gestellt. Die einen feiern ihn als Held, für die anderen ist er ein Schlepper. Und ein Gericht droht dem Seenotretter mit Gefängnis.

Von Stefan Becker
 12 Min.
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„Lifeline“-Kapitän Claus-Peter Reisch während der #ausgehetzt-Demo in München.
„Lifeline“-Kapitän Claus-Peter Reisch während der #ausgehetzt-Demo in München. © Henning Schlottmann für Wikipedia

Der Mann könnte ängstlich sein, klein beigeben, sich ins Private zurückziehen und darauf hoffen, wieder ein ganz normales Leben zu führen. Wohl kaum jemand würde es Claus-Peter Reisch übelnehmen. Einfach so wie früher, als er noch nicht als Seenotretter auf dem Mittelmeer unterwegs war und Migranten vor dem Ertrinken bewahrte. Als der 57-jährige Bayer noch nicht das Gesicht der kleinen Dresdner Hilfsorganisation „Mission Lifeline“ inmitten der großen Politik war und Projektionsfläche für den Hass von rechts. Er könnte aufgeben, aber dafür ist Claus-Peter Reisch zu stur. Ein Drama in fünf Akten.

1. Die Abfahrt

Gut geölt geht die „Lifeline“ an den Start. 
Gut geölt geht die „Lifeline“ an den Start.  © Hermine Poschmann

„Verdammt“, flucht der Käpt’n und knirscht mit den Zähnen: „Wer baut das Ding jemals wieder zusammen?“ Das Ding ist der Schiffsdiesel des Schiffes „Lifeline“. Er liegt fein säuberlich über den gesamten Maschinenraum verteilt. Jeder Bolzen geputzt, jede Schraube gefettet, aber eben ein Puzzle aus 1000 Teilen. Die Crew des Schiffes hat in der sizilianischen Winterwerft ganze Arbeit geleistet, bloß den Zeitpunkt für den Zusammenbau immer wieder vertagt. Dabei soll das Schiff in wenigen Tagen auslaufen.

Den Beginn seines ersten Einsatzes für die Dresdner Hilforganisation „Mission Lifeline“ hat sich der neue Mann für die Brücke etwas anders vorgestellt. Als passionierter Segler kennt sich Claus-Peter Reisch aus mit Wind und Wellen im Mittelmeer. Die Erfahrungen hat er 2016 und 2017 auf Fahrten für die Organisation Sea-Eye aus Regensburg gesammelt – beim Retten von Schiffbrüchigen vor der libyschen Küste.

Die Montage des Motorblocks aber stellt selbst den gelernten Autmechaniker vor eine stattliche Herausforderung, der zuletzt eine Firma für Sanitär- und Heizungsprodukte leitete. Weil die Zeit drängt und das Spendenkonto Ebbe zeigt, weil vieles noch fehlt. Der Privatier mobilisiert alle Reserven, schreibt Bittbriefe an ihm bekannte Firmen. Die reagieren prompt: „Wieviel, wovon, wann und wohin?“ So etwa antwortet zum Beispiel die Schmiermittelfirma Liqui Moly, erinnert sich Reisch. Und plötzlich läuft alles wie geschmiert. Öle für Motor und Getriebe treffen gleich palettenweise ein, generalüberholte Feuerlöscher ersetzen alte Modelle. Tüv-zertifiziert geht die ganze Technik an den Start. Und gecharterte Schiffsmechaniker schrauben unter der Sonne Süditaliens am Diesel, bis die Kolben wieder Druck machen in den Zylindern.

„Wir hatten uns einen Termin gesetzt und den wollten wir auf jeden Fall halten“, sagt Reisch, der im Juni 2018 nicht ahnte, dass die Rettungs-Mission im Mittelmeer Geschichte schreiben und sein Leben komplett auf den Kopf stellen würde.


2. Die Rettung

Der „Lifeline“-Kapitän erklärt und die Delegation der libyschen Küstenwache diskutieren die Situation der geretteten Schiffbrüchigen an Bord.
Der „Lifeline“-Kapitän erklärt und die Delegation der libyschen Küstenwache diskutieren die Situation der geretteten Schiffbrüchigen an Bord. © Hermine Poschmann

Das Drama beginnt zur Sommersonnenwende. Nach mehreren kleineren Rettungseinsätzen in internationalen Gewässern ortet das Radar der „Lifeline“ am 21. Juni mehrere Signale, die sich bewegen. „Das kann alles sein: Treibgut, Fischerboote, Flüchtlingsboote oder Piraten, die den Flüchtlingsbooten die Motoren rauben“, sagt Reisch. Der kräftige Mann und seine Mannschaft nehmen Kurs auf die kleinen Punkte, die auf dem Radarschirm flackern. Sie sichten zwei überfüllte Schlauchboote und melden das nach Rom an die Leitstelle für die Seenotrettung im Mittelmeer. Die Italiener verlangen, dass die Lifeliner die Migranten der libyschen Küstenwache überlassen, aber die Seenotretter lehnen ab. Die Boote sind längst in internationalen Gewässern. „Wir haben genug Rettungswesten, Wasser und Essen an Bord. Wir können die Menschen medizinisch versorgen und übergeben sie an größere Schiffe für den Transport“, erklärt Reisch die bis dahin übliche Praxis.

Der Regierungswechsel in Rom bringt den rechten Hardliner Matteo Salvini von der Partei Lega Nord ins Amt des Innenministers. Das über zwei Jahre geltende Gewohnheitsrecht der Seenotretter im Mittelmeer, es gilt nicht mehr. Der Politiker verbietet Schiffen mit Flüchtlingen an Bord die Einfahrt in italienische Häfen. Er übt Druck aus auf die EU-Anrainer im Mittelmeer, beschimpft die privaten Seenotrettern als Verbündete der Schlepper und bezeichnet Migranten als Menschenfleisch. Die Richtung ist klar. Wer wie die privaten Hilfsorganisationen aus humanitären Gründen im Mittelmeer Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahrt, ist nun plötzlich ein Verbrecher, der das Geschäft von Schleppern und Schleusern betreibt. Dabei retten Marineverbände und Handelsschiffe Tausende vor dem Ertrinken.

In den Gummibooten, die Reisch erst nur durch sein Fernglas sieht, sitzen 234 Menschen. Für den Kapitän ist klar. Die müssen da runter, sonst werden sie sterben. Als die Flüchtlinge an Bord sind, kündigt sich die libysche Küstenwache über Funk an. „We will kill you“, knarzt es aus den Lautsprechern, „Wir werden euch töten.“ Ein graues Schnellboot rast auf die „Lifeline“ zu. Und keiner an Bord weiß, was jetzt passiert.

Mit einem Kaper-Manöver will der Kapitän der Küstenwache an der Bordwand der „Lifeline“ festmachen. Reisch blockt ab, verlangt einen Besuch an Bord. Die Libyer sollen ohne Waffen rüber kommen. Weil das Beiboot streikt, schicken die Dresdner ihr Schnellboot und holen die Delegation ab. „Ein Mann aus Bangladesh klammerte sich währenddessen an meine Beine und flehte darum, dass wir ihn nicht ausliefern. Sonst würde er sich auf der Stelle umbringen. Ich versprach ihm, dass er sich nicht sorgen müsse und empfing die Gäste“, erzählt Reisch. Die „Besucher“ machen unmissverständlich klar, sie wollen alle Migranten mitnehmen. Aber der Kapitän bietet Kaffee an und bleibt hart.

Die Uniformierten pochen auf ihr Recht. Sie glauben, sie seien in den eigenen Hoheitsgewässern. Reisch zeigt ihnen die Position auf der Seekarte und holt noch ein paar Kekse hervor. „Nach einer gefühlten Ewigkeit haben die Unterhändler unser Schiff verlassen und alle an Bord atmeten auf. Der Mann aus Bangladesh weinte vor Glück und wir waren uns alle einig, richtig gehandelt zu haben.“

In der Nacht kommt der nächste Einsatz. Noch ein Boot ist in Not. Die Mannschaft der „Lifeline“ hilft, 118 Flüchtlinge von einem Schlauchboot an Bord des Handelsschiffes „Alexander Maersk“ zu bringen. Und dann kommt das, was sich getrost als böse Überraschung bezeichnen lässt. Weder das Handelsschiff noch die „Lifeline“ sind in italienischen Häfen willkommen. Die „Alexander Maersk“ darf erst vier Tage später im sizilianischen Hafen Pozallo einlaufen. An der „Lifeline“ scheint Europa nun ein Exempel statuieren zu wollen.


3. Die Odyssee

Belegt mit 234 Schiffbrüchigen samt Crew liegt die „Lifeline“ tief im Wasser. 
Belegt mit 234 Schiffbrüchigen samt Crew liegt die „Lifeline“ tief im Wasser.  © Hermine Poschmann

Sie beginnt bei schönstem Wetter, ideal für einen entspannten Segelturn. Doch der Skipper und seine Mannschaft haben plötzlich ein krasses Problem. „Niemand konnte sich vorstellen, wie 234 Menschen auf engstem Raum und nach Monaten in Lagern duften können“, sagt Reisch. Wie bei der Rettung lautet das Kommando „Frauen und Kinder zuerst“. Die Mannschaft verteilt Seife und lässt die schiffseigene Seewasser-Entsalzungsanlage auf Hochtouren laufen. Parallel dazu kocht die Küchen-Crew in großen Töpfen die ersten der täglich 500 warmen Mahlzeiten.

Unter den Freiwilligen an Bord sind ausgebildete Sanitäter und ein Arzt im Ruhestand. Sie untersuchen und behandeln die Kranken und Schwachen, spenden Trost und Medizin. „An einem Abend schaute ich in der Krankenstation vorbei und da schliefen die Mütter mit ihren Kindern ganz ruhig, so ein friedliches Bild, da hatte ich tatsächlich eine Träne in den Augen“, sagt Reisch und kämpft ein bisschen mit der Fassung..

Während die 15-köpfige Mannschaft die Stimmung der Menschen und ihre Versorgung versucht, so gut es geht zu stabilisieren, ziehen am Horizont dunkle Wolken auf. Italiens Innenminister Salvini verschärft den Ton. Die „Lifeline“ habe sich angeblich nicht an die Anweisungen der Rettungslestelle in Rom gehalten. Er verkündet, dass weder die „Lifeline“ noch die Schiffe anderer Nichtregierungsorganisationen in Italien anlegen dürfen. Sollten sie es versuchen, würde ihr Schiff beschlagnahmt, droht der Hardliner. Die Seenotretter würden Beihilfe zu einem illegalen Einwanderungsgeschäft leisten. In Deutschland klatscht der rechte Rand Beifall, in Dresden skandieren Pegida-Anhänger auf dem Neumarkt „Absaufen, absaufen.“.

Reisch nimmt Salvinis Drohungen ernst und kreuzt mit der „Lifeline“ vor Malta, stoisch Kurs haltend. „Malta drängte darauf, dass wir weiter in die italienische Zone fahren. Deren Küstenwache überbrachte uns wiederholt den Wunsch der Regierung, doch erhielt ich den Befehl nie schriftlich und blieb deshalb in den maltesischen Gewässern.“ Per Kurzmitteilung aufs Handy kommen spärliche Informationen über die Verhandlungen von Maltas Premier Joseph Muscat.

Die Mannschaft der „Lifeline“ bekommt mit, dass mehrer deutsche Bundesländer anbieten, die Schiffbrüchigen aufzunehmen und, wie Horst Seehofer ihre Not ignoriert. Früher hat Reisch, der sich selbst als Konservativen bezeichnet, den heutigen Bundesinnenminister und seine CSU gewählt. Jetzt muss der Kapitän miterleben, wie Seehofer gegen die Seenotretter austeilt und fordert, ihr Schiff an die Kette zu legen. Ein durchsichtiges Manöver angesichts der bevorstehenden Landtagswahl in Bayern, das in Deutschland eine Regierungskrise auslöst, die über Wochen weiter schwelen wird..

Das politische Gezerre um die „Lifeline“, die Egoismen der EU-Staaten, all das bestimmt jetzt weltweit die Schlagzeilen. Solange das Wetter stimmt, lässt sich das nervende Warten auf eine Lösung aushalten, aber was, wenn das Wetter schlechter wird, der Wind sich dreht. Dann wird es extrem gefährlich an Bord.

Für den Transport von so vielen Menschen bei starkem Seegang ist das Schiff nicht geeignet. Eine Welle von der falschen Seite und der 50 Jahre alte Kutter kentert. Oder die Wucht des Wassers spült die Passagiere über Bord. Während sich die europäischen Staaten noch über die Aufnahme der Geretteten streiten, kämpft Reisch gegen meterhohe Brecher. Er, der seit seinem 14. Lebensjahr in der Wassersportszene aktiv ist, wird unversehens zum Krisenkapitän, der für das Leben von über 200 Menschen verantwortlich ist. Den Wellen kann der Kapitän trotzen, aber gegen Seekrankheit gibt es kaum wirksame Mittel an Bord.

Für gesunde Menschen bedeutet sie eine unappetitliche Last – für chronisch unterernährte Patienten jedoch Lebensgefahr. Die dehydrierten Schiffbrüchigen könnten ins Koma fallen und sterben. „In den stürmischen Tage zum Ende der Reise haben wir die Schlafenden alle zwei Stunden geweckt, um zu schauen, ob es ihnen den Umständen entsprechend gut geht“, erinnert sich Reisch an die vielleicht dramatischsten Stunden seines Lebens

Dann kommt er doch noch, der erlösende Funkspruch aus Maltas Hauptstadt Valletta. Die Inselregierung erlaubt der „Lifeline“ die Einfahrt in den Hafen. Von hier aus brachen über Jahre fast alle privaten Seenotretter zu ihren Missionen auf. Nun wird er zum Gefängnis für die „Lifeline“ und der Kapitän gilt plötzlich als Krimineller.


4. Der Prozess

Fahren unter falscher Flagge. Das wirft die Anklage Claus-Peter Reisch nun vor, nachdem von anderen Anschuldigungen kaum etwas geblieben ist. Die Registrierung in den Niederlanden sei ungültig, obwohl das Schiff immerhin schon über ein Jahr unbehelligt und im Auftrag der Seenotrettungszentrale in Rom im Mittelmeer kreuzt. Die „Lifeline“ sei ordnungsgemäß beim holländischen Wassersportverband als Sportboot registriert und darf deshalb die Flagge des Landes führen, wiederholt der Dresdner Verein „Mission Lifeline“ ungehört über Tage. Das Argument hat keine Chance.

Der italienische Innenminister fordert die Niederlande, sich um Schiff und Flüchtlinge zu kümmern. Die Antwort aus Den Haag: Die Regierung erklärt die Registrierung der „Lifeline“ für nichtig. Claus-Peter Reisch droht nun eine saftige Geldstrafe oder Gefängnis. „Das ist ein politischer Prozess, die EU-Regierungen wollen die private Seenotrettung abwürgen und damit das Sterben im Mittelmeer wieder verschleiern“, sagt Reisch, der bisher nie mit dem Gesetz in Konflikt kam.

Der Kapitän ist längst ein Symbol für alle Seenotretter in Not. Das Gericht hat Mühe, den Prozess gegen den Kapitän voran zu bringen. Weil die Niederländer erst keine Fragen beantworten und dann keiner die Antworten übersetzen kann. Reisch darf gegen 10 000 Euro Kaution ausreisen, um seine betagte Mutter zu besuchen. Zu den Gerichtsterminen reist er immer wieder auf eigene Kosten an. Dabei besucht er auch seine Crew, die im Hafen das beschlagnahmte Schiff in Schuss hält, das rund um die Uhr von Polizisten bewacht wird. Im Januar will der Richter das Urteil fällen, nachdem sich Reisch im Dezember zum ersten Mal persönlich zu den Vorwürfen vor Gericht äußern durfte.


5. Die Debatte

Der Kapitän als Studiogast beim Bayerischen Rundfunk.
Der Kapitän als Studiogast beim Bayerischen Rundfunk. © Screenshot SZ

Über Nacht ist Claus-Peter Reisch zur Symbolfigur für die Seenotretter avancierte. An ihm scheiden sich die Geister. Befürworter geben und sammeln Geld, wie TV-Satiriker Jan Böhmermann, der für die Gerichtskosten in drei Wochen knapp 200 000 Euro sammelt. Popstars wie Udo Lindenberg, die Ärzte oder die Fantastischen 4 bringen das Thema auf die Bühnen, senden Botschaften und spenden selbst. Kirchenleute und Kulturschaffende sind auch im Boot. Auf der anderen Seite nutzen Rechte und Rechtsextreme „Mission Lifeline“ für ihre Zwecke, befeuert von der rhetorischen Härte des Italieners Salvini und bestärkt durch das Gezerre in der EU. 

Der Chor der Kritiker spricht jetzt offen aus, was früher undenkbar war: Der Kapitän, der Menschen rettete, ist in ihrem Weltbild ein Krimineller. „Zum Glück bin ich noch nicht persönlich bedroht worden, dafür bekomme ich viele böse Anrufe. Die Kommentare im Netz zählt schon keiner mehr“, sagt Reisch. Er spricht nun vor Schulklassen über Seenotrettung oder vor großem Publikum – wie bei der Demonstration „Ausgehetzt“ mit 40 000 Menschen in München. Es gibt eine provokante Bekleidungskollektion namens „Schlepperkönig“ vom „Team Umvolkung“. Die Ironie der Kampagne, die Reisch als Werbe-Ikone ziert, bleibt auch bei den Rechten nicht unbemerkt.

Für einen Moment still wird die Stimme der Seenotretter dann doch, wenn es um die auf ein Minimum reduzierte Privatsphäre geht. Nach dem Sturz seiner bis dahin so rüstigen Mutter sorgt sich Claus-Peter Reisch um das Wohl der alten Dame. „Ich mag gar nicht daran denken, sollte mich das Gericht für ein Jahr einsperren“, sagt er. Es wäre der nächste Akt in diesem Drama, dessen Ende noch nicht absehbar ist.