Von Helmut Stoltenberg
In den Wendemonaten 1989 gehört sie zu den Antriebskräften der friedlichen Revolution in der DDR–jedenfalls solange, wie die Umwälzungen der Losung folgten: „Wir sind das Volk“. Als Bärbel Bohley im September jenes Jahres zusammen mit anderen im Aufruf „Die Zeit ist reif“ einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in der DDR fordert, unterschreiben innerhalb weniger Wochen mehr als 250000 Menschen das Gründungsdokument des Neuen Forums.
Als dann am 9. November in Berlin die Mauer fällt, geht die Bürgerrechtlerin nach eigenem Bekunden abends mit dem Wissen ins Bett, „dass in diesem Moment die DDR erledigt ist“. Die Regierung habe „den Verstand verloren“, kritisiert sie nach der Öffnung der Mauer die verunsicherte DDR-Führungsriege.
Alles kam anders
Ihr Ding war es nicht, als kurz darauf, am 20. November, auf der Leipziger Montagsdemo erstmals massenhaft auf Plakaten mit der Parole „Wir sind ein Volk“ die Wiedervereinigung gefordert wurde. „Wir wollen über uns selbst bestimmen und uns das, was uns 40 Jahre verwehrt wurde, auch nicht von der BRD nehmen lassen, erklärt Bohley fünf Tage später und stellt klar, das Neue Forum wolle „die DDR bewahren und inhaltlich verändern“. Es sollte anders kommen.
Bärbel Bohley wird kurz nach Kriegsende, am 24. Mai 1945, in Berlin geboren. Die von ihrem Vater, einem Konstrukteur, erzählten Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg tragen „wesentlich zu ihrer späteren pazifistischen Haltung bei“, heißt es später auf ihrer Internetseite. Sie studiert Malerei, wird Mutter, arbeitet als freischaffende Künstlerin. Käthe Kollwitz und Francisco Goya sind ihre Vorbilder.
Stasi-Vorwurf: Landesverrat
Ein Jahr nach der Gründung der unabhängigen Gruppe „Frauen für den Frieden“ wird Bärbel Bohley 1983 aus der Sektionsleitung Malerei des Verbandes Bildender Künstler in Berlin ausgeschlossen. Wegen ihrer Kontakte zu westdeutschen Grünen kommt sie um die Jahreswende 1983/84 in die MfS-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen. Die Stasi wirft ihr „landesverräterische Nachrichtenübermittlung“ vor. Bohley erhält Reiseverbot, sie darf ihre Werke nicht mehr ausstellen.
Verstärkt setzt sie sich für Meinungs-, Reise- und Versammlungsfreiheit und mehr öffentliche Debatten in der DDR ein. Sie wird Mitbegründerin der „Initiative Frieden und Menschenrechte“. Bei Demonstrationen zum Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verhaftet die Stasi 1988 rund 120 Menschen, darunter auch Bohley. Direkt aus dem Gefängnis wird sie abgeschoben; mit einem Sechs-Monate-Visum geht sie nach England und kehrt im August in die DDR zurück. Den Umbruch im folgenden Jahr ahnt zu dieser Zeit noch niemand.
Bärbel Bohley wird als warmherzig und schlagfertig beschrieben. 1989 erhofft sie sich eine „Wertediskussion“ jenseits „von Kapitalismus und real existierendem Sozialismus“, wie sie einmal sagte. Von Medien als „Leuchtturm im Herbst 89“ gefeiert, muss sie enttäuscht hinnehmen, dass das Neue Forum nach der ersten freien Volkskammerwahl vom 18. März 1990 kaum noch eine Rolle spielt. „Die DDR-Bevölkerung hat ... das Geld gewählt, die Bananen und ... sie hat eigentlich Kohl gewählt“, kommentiert sie den Wahlausgang.
„Die Akten gehören uns“
1990 sitzt Bohley für das Neue Forum in der Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung. Sie beteiligt sich an der Besetzung der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße unter dem Motto „Die Akten gehören uns!“. Ihre Kandidatur bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 zieht sie indes zurück, den Zusammenschluss der DDR-Bürgerbewegungen zur Partei Bündnis 90 lehnt sie ein Jahr später ab.
Nach Einsicht in ihre Stasi-Akte beschuldigt sie ihren früheren Rechtsanwalt Gregor Gysi (PDS), „Stasi-Spitzel“ gewesen zu sein. Die Gerichte untersagen ihr die Wiederholung dieses Vorwurfs und wollen ihr sogar die Prozesskosten pfänden. „Lieber geh ich ins Gefängnis, als für einen IM zu zahlen“, sagt vor Sympathisanten, als der Gerichtsvollzieher klingelt. Sie ist enttäuscht über die juristische Aufarbeitung des DDR-Unrechts nach der Wiedervereinigung. 1995 trifft sich Bundeskanzler Helmut Kohl in Bohleys Wohnung mit Bürgerrechtlern, aus einem zweiten Treffen 1996 resultiert die Gründung des Vereins „Bürgerbüro“. Er will denen helfen, die durch DDR-Willkürakte geschädigt sind.
Helfen will Bohley auch auf dem Balkan, wo sie von 1996 bis 1999 in der Internationalen Friedensbehörde für Bosnien-Herzegowina in Sarajewo arbeitet und ein Wiederaufbauprogramm organisiert. Sie bleibt im ehemaligen Jugoslawien, lebt mit ihrem Mann Dragan Lukic, einem Lehrer, in dem kleinen Ort Celina nahe der kroatischen Küstenstadt Split. Dort ermöglicht sie mit ihrem Verein „Seestern“ e.V. Flüchtlingskindern, gemeinsame Sommerferien zu verleben, organisiert das Projekt „Zisternen“ für die Versorgung von Flüchtlingsfamilien mit Trinkwasser.
Vom Balkan sieht sie Berlin zu
Vom Balkan aus verfolgt die Berlinerin die Entwicklung in Deutschland, reist zu Vorträgen und Veranstaltungen in die alte Heimat, wo sie in Berlin noch eine Wohnung hat. 2002 unterstützt sie im Bundestagswahlkampf überraschend die FDP, um eine rot-rote Koalition zu verhindern. Als sie 2005 ihren 60. Geburtstag feiert, blickt sie entspannt zurück: Es sei zwar 1989 nicht alles so gekommen, „wie wir es uns damals erhofft haben, aber das ist wohl normal“. Im Großen und Ganzen sei sie zufrieden, die Mauer sei weg und die Welt offen, wird sie damals zitiert.
Bis 2008 lebt sie in Kroatien in der Nähe von Split und kehrt erst 2008 in ihre Heimatstadt Berlin zurück–schon gezeichnet von ihrer Krankheit. Am vergangenen Sonnabend ist Bärbel Bohley im Alter von 65 Jahren in Gehren, einer kleinen uckermärkischen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, an ihrem Krebsleiden gestorben. (dapd)