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Ohne Auto auf dem Land – geht das in Sachsen?

Zwei Projekte in Gelenau und Zwönitz zeigen, dass Menschen auch ohne eigenes Fahrzeug mobil sein können. Es gibt aber Tücken. Ein Gastbeitrag.

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Ruhiges Landleben. Aber das hat seinen Preis, denn mobil ist man dort meist nur mit dem eigenen Auto. Gelenau hat aber ein außerordentliches Projekt gestartet.
Ruhiges Landleben. Aber das hat seinen Preis, denn mobil ist man dort meist nur mit dem eigenen Auto. Gelenau hat aber ein außerordentliches Projekt gestartet. © kairospress

Von Burkhard Zscheischler

Familien, die sich den Ballungsraum, in dem sie meistens arbeiten, nicht leisten können, ziehen immer weiter hinaus, um sich ein Häuschen auf dem Lande zu bauen. Der Nachteil: Sie kommen nicht um zwei Autos herum – was angesichts von Spritkosten um die 2-Euro-Grenze eine enorme Belastung darstellt, von den Nachteilen für die Umwelt einmal abgesehen.

Für jene, die schon immer in der Erzgebirgsregion zu Hause sind, aber nach Chemnitz oder in eine andere Kommune der Region zur Arbeit pendeln, ein altbekanntes Ärgernis. Zwar gibt der Landkreis jährlich 18 Millionen Euro alleine für den ÖPNV aus, doch hilft das jenen nicht, die einen regelmäßig verkehrenden Bus oder eine Bahn nur vom Hörensagen kennen. Ein Projekt des Smart Rail Connectivity Campus (SRCC) Annaberg-Buchholz hat zumindest die theoretischen Grundlagen geschaffen, im Erzgebirgskreis einen den Großstädten vergleichbaren ÖPNV zu schaffen.

Wie sieht ein Mobility-Hub auf dem Lande aus? Eine Holzbank am Straßenrand, Aufschrift: „Pendlerbank“. Was wie ein derber Spaß klingt, ist als Grundidee der „smarten Mobilitätsketten im ländlichen Raum“, so der Projektname, gar nicht so weit hergeholt. Man stelle sich noch ein Dach über der Bank vor gegen Wetterunbill, daneben einen Parkplatz für private und Car-Charing-Autos sowie eine Digitalanzeige mit den Abfahrtszeiten der Shutt-les, Busse und Bahnen.

Unser Protagonist, nennen wir ihn Lutz Meier, hat das Shuttle erst vor 20 Minuten am Frühstückstisch per Handy-App bestellt. Denn da hat ihm seine Frau eröffnet, dass das Familienauto in die Werkstatt muss und sie daher den Großeinkauf fürs Wochenende mit dem Zweitwagen machen wird, außerdem muss der Filius mit seinem sperrigen Cello zur Musikschule gebracht werden.

Der Fahrer des ÖPNV-Shuttles mit nur sieben Sitzen erhält elektronisch den Hinweis, dass er seine Route ändern und einen Abstecher von 600 Metern machen muss. Er wird trotzdem rechtzeitig an einem (Bus-)Bahnhof haltmachen, wo Lutz Meier einen Zug oder Bus erwischt, der ihn sein wichtiges berufliches Morgenmeeting um 10 Uhr am Arbeitsplatz nicht versäumen lässt. Weil das so gut klappt, verzichten die Meiers bald auf den Zweitwagen. Dabei leben sie in einer Gegend, in der sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Diese beiden erfreut es umso mehr, wenn die Shuttles mit leisen und umweltfreundlichen E-Motoren verkehren und in ein paar Jahren vielleicht ganz allein, nämlich autonom.

Virtuelle Haltestellen

Die Studien-Autoren können dabei von einem prinzipiell schon gut ausgebauten Bahn- und Bus-Netz in der Region ausgehen. Dessen Taktung und Linienführung sind nur anzupassen, Buslinien zu verlängern und besser auf die Bedürfnisse insbesondere von Berufspendlern zuzuschneiden. Allerdings befinden sich zwischen den aktuellen ÖPNV-Angeboten „kahle Flecken“, die aufgrund (noch) geringer Nachfrage kaum beleckt sind. Diese werden durch kleine Shuttle-Busse erschlossen, mit, das ist neu, „virtuellen Haltestellen“. Das kann die Straßenlampe an der Ecke zur Hauptstraße sein, von der aus Lutz Meiers 82-jährige Nachbarin einmal in der Woche zur Physiotherapie in den nächst größeren Ort gelangt. Wie diese lernt, das Shuttle per Handy-App zu bestellen, ist noch zu klären.

Abgesehen von der Hardware wie Shuttle-Bussen und Haltestellen-Einrichtung ist viel Programmierleistung notwendig. Alle Verkehre und deren Daten müssen miteinander verknüpft werden, um die Information, Buchung und Abrechnung möglichst einfach und zuverlässig zu gestalten. Dazu ist wiederum eine gute Netzabdeckung gefordert, wie sie rund um den Annaberger Smart Rail Connectivity Campus mit 5G bald gewährleistet sein wird. Laut den Studienautoren könnten somit bald 50 Prozent aller beruflich wie privat bedingten Fahrten „öffentlich“ stattfinden statt jetzt zu höchstens 30 Prozent.

Dabei haben die Projektbeteiligten rund um die TU Chemnitz, darunter zwei Fraunhofer Institute, die Erzgebirgsbahn, die Regionalverkehr Erzgebirge GmbH sowie der Landkreis, alles hineingepackt, was moderne Mobilität ausmacht: angefangen von Handy-Apps über eine intelligente Verkehrssteuerung, den Einsatz kleiner Shuttle-Busse, Car-Sharing und eine angepasste Infrastruktur, sogenannte Mobility-Hubs. „Technisch ist das alles bereits machbar“, sagt Projektleiter Steve Rother von der TU Chemnitz, „da fast alle Beteiligten in unserem seit zwei Jahren laufenden Projekt eingebunden sind, könnten wir eigentlich sofort starten.“

Eigentlich. Leider hat das Ganze seinen Preis. Der Kreis müsste allein für den Betrieb der zusätzlichen Shuttle-Busse seinen ÖPNV-Haushalt um gute fünf Millionen Euro jährlich aufstocken, die Errichtungskosten und die App kämen oben drauf. Der Kauf der (zusätzlichen) Shuttle-Busse wird im Freistaat gegebenenfalls – sofern er sein ganzes Geld nicht schon für Corona-Hilfen ausgegeben hat – gefördert. Dennoch: Bei einem aktuellen Minus im Doppelhaushalt des Landkreises 2021/22 von zehn Millionen Euro eine Zukunftsmusik mit Misstönen. Dabei gibt es bereits lokale Vorbilder: Die Buslinie 209 der Regionalverkehr Erzgebirge GmbH im nur etwas mehr als 4.000 Einwohner zählenden Gelenau oder das Projekt „ERZMobil“ der Stadt Zwönitz.

Das ERZmobil in Zwönitz mischt einen digital gemanagten Rufbus sowie Anrufsammeltaxis mit dem ÖPNV-Linientakt. Start- und Ankunftszeiten stehen fest, unterwegs können sie variieren. Die Buchung erfolgt über eine App, der Fahrpreis wird über das Verbundticket verrechnet. Interessant: In Fahrplanpausen können die Fahrzeuge für Sondertransporte gebucht werden. Das Ziel der Stadtverwaltung: Von mindestens 80 Prozent aller Wohnungen soll nach maximal 600 Metern eine Haltestelle erreicht werden.

Seit 2015 verkehrt in Gelenau die Buslinie 209, eingeführt nach einer Einwohnerbefragung. Mit 43 Haltestellen, zehn Kilometer hinauf ins Ober- und neun hinunter ins Unterdorf, verkehrt sie Montag bis Freitag von 8 bis 12 und 14 bis 18 Uhr stündlich sowie Samstag von 10 bis 17 Uhr aller zwei Stunden. Eingesetzt wird ein barrierefreier Niederflur-Kleinbus mit 20 Sitzen, der auch Platz bietet für einen Kinderwagen oder Rollstuhl sowie Rollatoren.

So ein Denglisch

Die Netzabdeckung des Gelenauer 209er ist ideal, fanden die Studienersteller der Mobilitätsketten, und legten ein vergleichbares Raster über den gesamten Mobilitätsraum. So ergab sich der zusätzliche Bedarf quasi ganz von allein: 45 zusätzliche Fahrzeuge, davon 31 mit 20 und 14 mit sieben Plätzen, macht Gesamtzusatzkosten von 5,3 Millionen Euro pro Jahr – nur für den Betrieb. Die Kosten für eine App und den Aufbau von Mobilitäts-Hubs fallen extra an.

Da schlagen Kommunal- und Kreispolitiker natürlich die Hände über dem Kopf zusammen: Woher das viele Geld nehmen? Dabei scheint es nur eine Frage des Wollens, der abgestimmten Umverteilung und des Tuns zu sein. Gelenau – schon wieder – macht es vor: Seit dem 30. Januar 2022 gibt es dort einen neuen Fahrplan mit verlängerter Linie 208 sowie neuer Taktung. So hat der Ort im Stundentakt eine Anbindung ans Chemnitzer Modell. Berufspendler, Studierende und Schüler wissen dies zu schätzen.

CO2Fazit: Geht doch. Zu hinterfragen ist lediglich, ob es beim Denglisch-Kauderwelsch bleiben muss: „Mobility-Hubs“ und „dynamische Ridepooling-Shuttle-Zonen“. Am Ende bleibt es eine Pendler- oder Mitfahr-Bank, wenn auch „smart“.

Der Autor: Burkhard Zscheischler begleitete das Annaberger Projekt SRCC seit dessen Entstehung als Mitarbeiter des sächsischen Wirtschaftsministeriums. Seit einem Jahr ist der gelernte Journalist Rentner und hätschelt sein „Baby“ nunmehr ehrenamtlich. Der in Radebeul lebende Zscheischler (67) besitzt seit drei Jahren kein Auto mehr.