Merken

Nazi-Raubkunst gegen Willen der Erben exportiert

Ein wertvoller Meissener Kasper ging jetzt nach Japan, obwohl ein Ausfuhrverbot bestand.

Teilen
Folgen
© Dep. for Culture, Media and Sport/UK

Von Peter Anderson

Ein ungewöhnlicher Vorgang beschäftigt die Kunstszene in England. Wie das Londoner Internet-Portal The Art Newspaper berichtet, ist eine sehr wertvolle Figur aus Meissener Porzellan aus dem Vereinigten Königreich nach Japan verbracht worden, obwohl nahezu erwiesen ist, dass diese von den Nazis enteignet wurde.

Bei dem aus der Figurengruppe des italienischen Volkstheaters Commedia dell’arte stammenden Pulcinella oder Hanswurst handelt es sich um ein extrem rares Stück Böttgersteinzeug, das Vorgängermaterial des weißen Meissener Porzellans. In einem der SZ vorliegenden Gutachten der Kunstagentur Arts Council England heißt es, der Pulcinella besitze eine „außergewöhnliche künstlerische Bedeutung.“ Bemalt wurde er mit sogenannter kalter, das heißt ungebrannter Farbe. Das Verfahren fand nur in den experimentellen Anfängen der sächsischen Porzellanproduktion Anwendung. Als möglicher Schöpfer des Modells für die Figur wird in der Expertise der Zwinger-Bildhauer Balthasar Permoser vermutet. Mit seinem frühen Entstehungsdatum gilt der Pulcinella als einer der Urväter der europäischen Porzellan-Figuren überhaupt und im Speziellen der sehr erfolgreichen Serie von Figuren der Commedia dell’arte. Unter diesen Umständen erfüllt das Kunstwerk mindestens zwei wichtige Punkte, um seine Ausfuhr aus Großbritannien – zumindest befristet – zu untersagen.

Zu der kunsthistorischen Bedeutung gesellt sich die politische Dimension. Die auf einen Wert von rund 320 000 Euro geschätzte Statue war 2016 laut Art Newspaper aus dem Nachlass des jüdischen Kunsthändlers Arthur Kauffmanns auf dem britischen Kunstmarkt aufgetaucht. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte der kleine Mann aus braunem Böttgersteinzeug zur Sammlung der Hamburger Bankierswitwe Emma Budge. Ihr Mann Henry Budge hatte nach Angaben des in Hamburg ansässigen Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Amerika als Teilhaber eines Bankhauses ein Millionenvermögen erworben. Nach der Heimkehr nach Deutschland baute sich das Ehepaar ab 1903 eine wertvolle Sammlung mit Porzellan, Gemälden und Kunstschätzen auf. Ursprünglich verfolgte Emma Budge den Plan, das gemeinsame Lebenswerk der Stadt Hamburg zu vererben. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bestimmte sie jedoch die amerikanische Regierung oder ersatzweise die jüdische Gemeinde Hamburg zum Erben. Dieser Wille wurde von den Nazis ignoriert. Nachdem das Berliner Auktionshaus Paul Graupe die Sammlung des Millionärsehepaars 1937 versteigert hatte, landete der Erlös einem Artikel des Londoner Antiquitäten-Magazins Antiques Trade Gazette zufolge auf einem geblockten Konto der M. M. Warburg-Bank. Die ursprünglichen Stiftungszwecke blieben unbeachtet. Somit lässt sich von Enteignung sprechen. Vor diesem Hintergrund und vor allem um der hohen künstlerischen und kunsthandwerklichen Bedeutung des Stücks Rechnung zu tragen, verhängte das zuständige britische Kulturministerium im Frühjahr 2017 ein befristetes Exportverbot. Auf diese Weise sollte ein britischer Käufer die Chance erhalten, die Figur für den empfohlenen Preis zu erwerben und auf der Insel zu halten. Dem Art Newspaper zufolge fand sich jedoch kein Museum, welches das Objekt erwerben wollte. Der Grund: Es stammt aus einem von den Nazis erzwungenen Verkauf, weshalb Rückgabeforderungen sehr wahrscheinlich sind.

Nachdem die vorgeschriebenen Fristen verstrichen waren, wäre nur noch ein Weg geblieben, einen Export nach Japan zu verhindern: Die Erben des Bankiers-Ehepaars Budge hätten dazu gemeinsam mit dem Besitzer ein Verfahren vor der offiziellen britischen Enteignungs-Kommission beantragen müssen. Ein solcher Vorstoß fand jedoch nicht statt. Offenbar verweigerte sich der neue Besitzer. Deshalb konnte eine Ausfuhr nicht verhindert werden.