Von Dominique Bielmeier
Meißen. Gunter Demnig arbeitet zügig und routiniert: Erst hebelt er den provisorischen Stein aus dem Boden, den der Bauhof dort zuvor eingesetzt hatte, dann schaufelt er mit einer Kelle die Erde aus dem entstandenen Loch, damit der messingbeschichtete Pflasterstein mit der handgeschlagenen Inschrift darin Platz findet. Diesen setzt er nun ein, klopft ihn vorsichtig fest und fixiert ihn mit Zement, Erde und einer kleinen Wasserdusche aus der Gießkanne. Ein kurzer Wisch mit dem Taschentuch, bis der Stein glänzt, dann schnappt der Künstler sich wortlos die vier Eimer voll Dreck und Werkzeug – und ist verschwunden.

Ein wenig ratlos schauen die herumstehenden Bürger und Schüler der Freien Werkschule ihm nach. „Kann mal jemand etwas zur Person sagen?“, fragt ein Mann nach einer Pause. Da kommt Pfarrer Bernd Oehler dazu, im Gepäck ein Mikrofon, einen kleinen Lautsprecher und ein Klemmbrett mit den Lebensdaten zu Marie Sachs: 1860 geboren als Marie Krause, 1942 deportiert nach Theresienstadt, wo sie am 31. März 1943 ermordet wurde. Zusammen mit ihrem Ehemann Herrmann Sachs bildete sie die erste jüdische Existenzgründer-Familie in Meißen nach 1883. In der Elbstraße 16 hatten sie ihr Geschäft für Damen- und Herrenkleidung, das in der Reichspogromnacht zerstört wurde. Heute werden an der Stelle auf dem Weihnachtsmarkt Thüringer Bratwürste verkauft.
Auf dem Stein, der am Dienstagnachmittag vor dem Eiscafé in der Elbstraße 26, direkt dort, wo aus dem Fenster Eis verkauft wird, verlegt wird, finden sich nur die Lebensdaten und Todesumstände von Marie Sachs. Mit einer knappen Stunde Verspätung findet der Termin statt, der Wochen vorher angekündigt wurde, weil der Künstler und Stolperstein-Erfinder Demnig auf sich warten lässt. Als er schließlich kommt, ist er genau so plötzlich wieder verschwunden. Den Mitgliedern der Bürgerinitiative Stolpersteine Meißen ist anzumerken, dass auch sie sich über den eigensinnigen Künstler mit Udo-Lindenberg-Hut wundern, der Wert darauf legt, so gut wie alle Steine europaweit selbst zu verlegen.
So richtig andächtige Stimmung will deshalb nicht aufkommen in der Elbstraße 26, die sieben Kerzen auf der kleinen Menora, die Pfarrer Oehler aufstellt, gehen im Wind immer wieder aus. Und weil alle ein wenig Angst haben, dass Gunter Demnig sich nach der Verlegung der zwei weiteren Steine, die direkt danach geplant ist, ganz aus dem Staub macht, geht es schnell weiter für die Gruppe in die Elbstraße 32, wo Wilhelm und Elisabeth Heymann ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten.
Das Ehepaar, eine der bekanntesten jüdischen Kaufmannsfamilien, starb 1943 und 1944 in Theresienstadt. Auch sie hatten ein Modehaus, erst auf der Burgstraße, später auf der Elbstraße. Als Gunter Demnig sich nun zum zweiten Mal an diesem Tag auf Meißner Boden kniet, beginnt das Glockenspiel an der Frauenkirche, „Stille Nacht“ zu spielen. Während Demnig gewohnt zügig die beiden Steine verlegt, spricht Pfarrer Oehler über die Vernichtung der Juden durch die Nazis, über Zyklon B und Menschen, die mit Genickschuss hingerichtet wurden und in die Gräben fielen, die sie zuvor ausheben mussten.
Auch dem letzten Schüler vergeht nun das Feixen und als Pfarrer Oehler zwei hebräische Lieder anstimmt, singen viele Umstehende mit oder versuchen es zumindest. Sogar der wortkarge Künstler lässt sich überreden, ein paar Worte an das Publikum zu richten. „Ich muss mich entschuldigen“, sagt Demnig über seine Verspätung. „Meine Mitarbeiterin hatte etwas falsch gegoogelt.“ Der Wind hat mittlerweile etwas nachgelassen und so bleiben sogar die Kerzen auf der Menora an.