Lage bei den Neurologen verschärft sich

Wieder hat eine Arztpraxis ohne Nachfolger schließen müssen: Der Löbauer
Mediziner Reinhard Wolf hat jetzt seine Praxis aufgegeben - mit fast 80
Jahren. Noch bis Anfang Juli praktizierte der Facharzt für Psychiatrie
und Neurologe im Löbauer Ärztehaus auf der Breitscheidstraße. Bis
September sind seine Mitarbeiterinnen nun noch vor Ort, wickeln die
Praxis ab, erledigen Büroarbeiten. Dies hat auch Auswirkungen auf die in diesem Fachbereich praktizierenden Ärzte zwischen Görlitz, Rothenburg und Niesky. Der sowieso schon große Andrang dort steigt noch einmal an.
Die Patienten, die Dr. Wolf bisher betreute, hängen nämlich kurzfristig in der Luft. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsens (KVS) ist auch kein neuer, zusätzlicher Arztsitz für einen Neurologen mehr frei im Raum Löbau-Zittau. Mediziner können sich nicht einfach mit einer Praxis niederlassen, wo sie möchten. Die Krankenkassen ermitteln, ob eine Region mit Ärzten bestimmter Fachrichtungen ausreichend versorgt ist - rein rechnerisch. Je nachdem werden Zulassungen erteilt oder aber abgelehnt. Nur mit einer Zulassung können die Ärzte ihre Leistungen über die Krankenkassen abrechnen.
Eine Neuzulassung von Ärzten aus dem Fachgebiet der Neurologie sei derzeit im Raum Löbau-Zittau nicht ohne Weiteres möglich, heißt es von der KVS auf Nachfrage. Lediglich für Ärzte, die den Bereich Neurologie und Psychiatrie gleichzeitig abdecken, sei eine freie Stelle zur Neubesetzung vorhanden. So könnte theoretisch ein Interessent die Stelle von Dr. Wolf übernehmen. Sie sei zur Nachbesetzung ausgeschrieben, informiert die KVS.
Klinikum Görlitz: Ununterbrochen Anfragen
Ähnlich angespannt wie im Süden des Landkreises ist die Situation auch in der Mitte und im Norden. In Görlitz praktizieren Janusz Zablocki auf der Jakob-Böhme-Straße und Dariusz Rosinski auf der Schulstraße. In Niesky gibt es Ulrike Bitterlich im Ärztehaus Hausmannstraße und Ortrud Behrendt auf der Muskauer Straße. In Rothenburg hat das Medizinische Versorgungszentrum Martinshof mit Renate Pissang eine Neurologin angestellt, die zuvor selbstständig war und ihre Praxis in Görlitz aufgegeben hat. "Wir sind froh, dass die KVS diese halbe Stelle genehmigt hat", erklärt MVZ-Geschäftsführerin Anke Drese. Sie und die Fachärztin selbst wollen sich eigentlich gar nicht zum Patientenandrang äußern. Der Grund: Man möchte nicht noch zusätzlich Aufmerksamkeit erregen.
Dass die Lage nicht erst seit der Praxisschließung des Löbauer Kollegen angespannt ist, merkt man auch im Görlitzer Klinikum. Sprecherin Katja Pietsch: "Die neurologische Versorgung im niedergelassenen Bereich ist in der Region bereits seit Langem nicht optimal." Dies resultiere aus einer Kombination von fehlenden Fachärzten und den dort eingeschränkten Möglichkeiten in der Diagnostik. "Uns als Klinikum erreichen ununterbrochen Anfragen von Patienten und Hausärzten, die keine Termine bei niedergelassenen Neurologen bekommen." Die Neurologische Klinik versuche deshalb, im Rahmen ihrer Möglichkeiten diese Leistungen mitzuerbringen. Allerdings, so Pietsch, "sind uns als Krankenhaus strenge Grenzen zwischen stationären und ambulanten Leistungen vorgegeben." Dort, wo es zugelassen sei, decke man den Bedarf mit ab. "Zum Beispiel mit Spezialambulanzen für Patienten mit Multipler Sklerose oder neuromuskulären Erkrankungen."
KVS verhängt Zulassungssperre für Neurologen
Laut der Kassenärztlichen Vereinigung ist die Region Löbau-Zittau mit Nervenärzten sogar überversorgt: bei 121 Prozent liegt der Versorgungsgrad. Im Bereich Görlitz/Niederschlesischer Oberlausitzkreis sind es 117,6 Prozent. Ermittelt wird dies vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen nach einem sehr komplexen Berechnungssystem. Die Einwohnerzahl, Alters- und Geschlechterstruktur in der Bevölkerung einer Region spielen dabei eine Rolle. Und auch, welche Krankheiten wie oft vorkommen in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.
Bis zu einem Versorgungsgrad von 110 Prozent lässt die Kassenärztliche
Vereinigung neue Arztstellen zu. Darüber hinaus wird eine Sperre
verhängt, sodass grundsätzlich keine Neuzulassungen möglich sind. Für
den Raum Löbau-Zittau gilt also im Bereich der Nervenärzte bereits eine
solche Sperre. Für Görlitz und den Niederschlesischen Oberlausitzkreis erlaubt die KVS noch eine halbe Stelle.
Für die Patienten klingen diese theoretischen Berechnungen wie Hohn. Denn die tägliche Praxis sieht ganz anders aus. Kranke warten Monate auf einen Termin bei Fachärzten, wie eben Neurologen - oder werden gar nicht mehr aufgenommen. Erst im vorigen Jahr ging eine Neurologin in Zittau ohne Nachfolger in den Ruhestand. Zwar zog kurz danach Kyra Ludwig aus Seifhennersdorf nach Zittau um. Sie wechselte aber nur den Standort und brachte ihren Patientenstamm mit. Nach der Schließung der Kollegin rannten die Patienten ihr die Türe ein, Frau Ludwig musste Patienten abweisen.
Ärzte arbeiten bis ins hohe Alter
Und auch jetzt können die Berufskollegen von Dr. Wolf keine neuen Patienten aufnehmen, bestätigt Dr. Torsten Werner. Der Neurologe führt seit sechs Jahren seine Praxis in Löbau auf der Bahnhofstraße. Der Wegfall von Dr. Wolfs Praxis stellt ihn und die verbliebenen Kollegen in Löbau-Zittau vor eine unlösbare Aufgabe. Aktuell gibt es nun vier Neurologen, zählt Werner auf: neben ihm sind das jeweils einer in Zittau, Herrnhut und Neugersdorf. Demgegenüber stehen rund 4.000 Patienten pro Quartal, die betreut werden müssen. Und Dr. Werner hat in seiner Praxis täglich etwa fünf bis zehn Anfragen neuer Patienten, die er nicht mehr aufnehmen kann.
"In der Neurologie werden vorwiegend chronisch kranke und nur selten heilbare Patienten betreut, die regelmäßig - quartalsweise, halbjährlich oder jährlich - in die Praxis kommen", sagt Dr. Werner. Gibt es zu wenige Ärzte führe das dazu, dass neue Termine erst in sechs bis neun Monaten vergeben werden können. "Egal, wie clever Sie planen oder Ihre Termine organisieren. Es müsste dann jemand wegziehen oder sterben, damit ein neuer Patient aufgenommen werden kann."
Schon vor drei Jahren hatte Dr. Werner sich an die KVS gewandt mit einer selbsterstellten Analyse. Denn auch er wollte wissen: Warum ist die Diskrepanz zwischen den theoretischen Bedarfsberechnungen und der Realität so groß? Nach seinen Ermittlungen von damals geht Torsten Werner davon aus, dass im Gebiet Löbau-Zittau bis zu 30.000 Patienten mit neurologischen Erkrankungen zu versorgen sind - also rund jeder vierte. Das macht er an den sogenannten Prävalenzzahlen fest. Das ist die Rate derer, die an einer bestimmten Krankheit leiden. Zum Beispiel an Demenz, Migräne, Schlaganfall, Epilepsie oder Parkinson.
Hinzu kommt noch die angespannte Situation in den Nachbarregionen. Ein
Großteil von Dr. Werners Patienten kommt bereits aus dem Raum Bautzen
und Görlitz. Denn nicht nur Dr. Wolf ist nun in den Ruhestand gegangen, sondern weitere Fachkollegen im Umkreis, zum Beispiel in Bautzen und Schirgiswalde.
Auch deren Patienten brauchen einen neuen Facharzt. Sie werden aber
hier nicht berücksichtigt, sondern zählen zum Versorgungsgebiet Bautzen.
Der Fall von Dr. Wolf aus Löbau, der noch bis ins hohe Rentenalter arbeitete, um seine Patienten so lange wie möglich zu versorgen, ist ein besonders gravierendes Beispiel - aber bei Weitem kein Einzelfall. Viele Mediziner arbeiten bis ins hohe Alter, oft mangels Nachfolge. Laut Auskunft der KVS sind aktuell insgesamt 20 Mediziner, die als Vertragsärzte im Raum Löbau-Zittau tätig sind, bereits über 65 Jahre alt.
Freistaat will Medizin-Studenten mit Zuschüssen locken
Nachfolger zu finden, wird dabei immer schwieriger, bei den Fach- wie den Hausärzten. Deshalb gibt es inzwischen diverse Förderprogramme, um Mediziner gerade in ländliche Regionen zu locken. So gibt es zum Beispiel das Sächsische Hausarztstipendium, bei dem Medizinstudenten vom Sozialministerium mit 1.000 Euro monatlich gefördert werden. "Dafür machen die Absolventen nach abgeschlossenem Medizinstudium eine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und sind anschließend für mindestens sechs Jahre als Hausarzt im ländlichen Raum Sachsens außerhalb der Städte Dresden/Radebeul und Leipzig tätig", erklärt ein Sprecher der KVS.
Zudem gibt es seit 2013 das Modellprojekt „Studieren in Europa – Zukunft in Sachsen“, das die KVS zusammen mit der Uni im ungarischen Pécs ins Leben gerufen hat. Jeweils 20 Studenten werden gefördert, die sich nach dem Medizinstudium verpflichten, als niedergelassener Hausarzt im ländlichen Raum Sachsens zu arbeiten.