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Ohne Obdach, aber selten ohne Dach

Wer im Landkreis Meißen keine Wohnung mehr hat, landet oft im Heim. Dort geht es streng zu – und liebevoll.

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© dpa

Von Dominique Bielmeier

Riesa/Meißen. Um 6.15 Uhr ist die Nacht vorbei – jeden Tag. Dann kommt Leben in den alten Wohnblock in der Klötzerstraße 35. Lange liegen bleiben und den neuen Tag verstreichen lassen, kommt im Riesaer Obdachlosenheim nicht infrage, dafür sorgt Leiterin Ute Grajek persönlich. „Waschen, Zähneputzen – da reden wir uns manchmal den Mund fusselig“, erzählt die 63-Jährige. „Manche wissen gar nicht, was eine Zahnbürste ist oder wie Zahnpasta aussieht.“

Frühstück gibt es bis acht Uhr, die 29 Männer, die zurzeit in den 20 Zimmern auf zwei Etagen leben – Platz wäre für über 40 –, bezahlen es im Voraus. Auch die Übernachtung ist keineswegs gratis, sechs Euro kostet sie, rund 180 Euro im Monat. Der jüngste Bewohner ist erst 23, der älteste 79. „Leider noch zu fit für das Pflegeheim“, sagt Grajek. Der Mann hat keinen Pflegegrad, aber auch niemanden mehr, der sich außerhalb des Heimes um ihn kümmern würde. „Wir sind seine Familie. Alleine würde er eingehen wie eine Primel.“

Wer in dem Heim vom DRK Riesa landet, hat schon einiges erlebt. Viele kämen direkt aus der JVA hierher, erzählt Grajek, andere wurden zwangsgeräumt, haben ihre Arbeit verloren, kamen früh mit Drogen und dem Verbrechen in Kontakt. Andere gehen noch täglich zur Arbeit. Die Jüngeren haben oft aber weder Schulabschluss noch etwas gelernt, wurden in der Kindheit von Heim zu Heim geschoben, heute wollen sie am liebsten auf Kosten des Staates leben, haben „Null Bock“ auf irgendwas. Oft leeren sie nicht einmal ihren Mülleimer oder beziehen das Bett neu. „Aber das funktioniert hier nicht“, sagt Grajek, „hier muss jeder etwas für das Heim tun“. Manchmal stellt sie sich so lange mit der frischen Bettwäsche neben das Bett, bis es vom Bewohner neu bezogen wird.

Das klassische Bild des Obdachlosen, der unter einer Brücke schläft, kann Grajek nicht bestätigen, zumindest nicht für Riesa. In solchen Fällen bekäme sie einen Anruf von der Polizei, damit auch diesem Menschen ein Bett angeboten werden kann. Manche der heutigen Bewohner hätten lange in der Gartenlaube geschlafen, bis es dort zu kalt wurde.

Wer hier lebt, der ist ganz unten angekommen. Streicheleinheiten hat er trotzdem nicht zu erwarten – aus gutem Grund, wie Grajek erklärt: „Wir wollen sie ja nicht zur Unselbstständigkeit erziehen, sondern irgendwann wieder raus haben.“ Oberstes Ziel im Heim ist die Resozialisierung. Sechs Männer konnten in diesem Jahr schon in Wohnraum vermittelt werden. Es gibt aber auch einen, der seit 1996 im Heim lebt. Er ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und hatte schon dreimal einen Schädelbasisbruch, erzählt Grajek. „Da ist der Gesetzgeber knallhart.“ Denn auch dieser Bewohner hat keinen Pflegegrad, obwohl er sich alleine nicht einmal Essen kochen könnte. Den Pflegedienst, der in das Heim kommt und ihm zum Beispiel beim Duschen hilft, muss er selbst zahlen. „Es ist hart, aber hier geht es zumindest noch menschlich zu“, sagt Grajek.

Eine Mitarbeiterin kommt herein und die Heimleiterin unterbricht das Gespräch kurz. Wie eine Keksdose in das Zimmer eines Bewohners komme, fragt die Frau. „Die hat er von uns gekriegt“, erklärt Grajek, „weil er null Geld hat. Damit er nicht verhungert, habe ich ihm eine Dose von den selbst gebackenen Keksen gegeben.“

Manchmal kämen auch Spenden, zum Beispiel von der Tafel, aber auch von Privatleuten. Der Lions Club hat dem Heim im September 30 neue Schränke übergeben, eine ältere Dame, die ihren Namen nie nennt, bringt jedes Jahr einen Stollen und ein Päckchen Kaffee vorbei. „Wir sind zwar die Ärmsten in der Gesellschaft“, sagt Ute Grajek, „aber wir sind auch ein Teil von ihr – das Leben geht nicht an uns vorbei“.

Das ist die Situation in den anderen Städten im Landkreis:

Meißen: ein „freiwilliger“ Obdachloser

Den „klassischen“ Obdachlosen gibt es nach Auskunft des Ordnungsdienstes auch in Meißen nicht. Der Verein Obdachlosenbetreuung Meißen e.V. kümmert sich im Heim in der Erlichtstraße 2 zurzeit um rund 30 Menschen, meist mit Abhängigkeitserkrankungen, außerdem habe die Stadt zum Beispiel für den Fall von Zwangsräumungen Unterbringungsmöglichkeiten angemietet, die bei Bedarf genutzt werden können, berichtet Sprecher Michael Eckardt. Dennoch gibt es in Meißen einen Obdachlosen, der nicht im Heim leben will und sich sein Nachtlager zum Beispiel in leerstehenden Häusern sucht.

Radebeul: mehr Räumungsklagen

Die Stadt hat nach Auskunft von Amtsleiter Elmar Günther zurzeit einen Obdachlosen in Radebeul und einen im Obdachlosenheim in Meißen untergebracht. Die Zahl der Räumungsklagen sei in den vergangenen Jahren gestiegen. „Seit September haben wir daher eine weitere Wohnung angemietet“, erklärt Günther. Gerade im Winterhalbjahr kämen immer mal wieder Anfragen für eine Unterbringung. In zwei Wohnungen gibt es aktuell sechs Plätze, zusätzlich hat die Stadt vier Nachzugswohnungen, in denen ehemalige Obdachlose normale Mietverträge haben. Auch Günther nennt als häufige Gründe für Obdachlosigkeit Mietschulden sowie Entlassungen aus Kliniken und Justizvollzugsanstalten.

Coswig: sechs von neun Betten belegt

Bei den Obdachlosenzahlen ist in Coswig kein Trend nach oben zu erkennen, sagt Sprecherin Ulrike Tranberg. Die Stadt unterstützt die Obdachlosenbetreuung Meißen, indem sie die Kosten für neun Betten im Meißner Heim übernimmt, die für Coswiger Obdachlose vorgehalten werden. Momentan seien sechs davon belegt.

Großenhain: Notwohnungen

Auch Großenhain hat einen Vertrag mit dem Obdachlosenheim in Meißen, um Wohnungslose im Bedarfsfall kurzzeitig unterbringen zu können. Zurzeit gebe es aber keine Obdachlosen, berichtet Sprecherin Diana Schulze. Außerdem habe die Verwaltung kleine Wohnungen in der Herrmannstraße gemietet, wo von Obdachlosigkeit bedrohte Bürger befristet untergebracht werden können. „Gründe für Obdachlosigkeit sind in den meisten Fällen Mietschulden oder Trennungen in der Partnerschaft“, sagt Schulze.