Die Autorinnen:
Dominique Bielmeier hat Frankfurt vor gut zehn Jahren das erste Mal besucht und durfte im Kunstmuseum mit Konfetti werfen. Seitdem strandete sie immer mal wieder am Bahnhof, weil der Anschlusszug weg war. Inzwischen arbeitet sie als Stellvertreterin in der Stadtredaktion Dresden der Sächsischen Zeitung, zuvor war sie fünf Jahre lang Lokalreporterin in Meißen.
Die Autorinnen:
Anne Buhrfeind ist lange vor dem Redakteurinnentausch mal von Hamburg nach Dresden geradelt, da lag Meißen auf dem Weg. Danach war sie immer nur kurz in Leipzig, Dresden oder Erfurt. Sie arbeitet seit gut zwölf Jahren bei chrismon, jetzt als stellvertretende Chefredakteurin, vorher war sie bei "Gala" und "woman" in Hamburg.
Die Autorinnen:
Dorothea Heintze ist Redakteurin bei chrismon, allerdings in Teilzeit. Sie pendelt aus Hamburg dazu. Zwei Jahre lang, von 2016 bis 2018, war ihr Weg kürzer, da wohnten sie und ihr Mann in Erfurt. Eine tolle Stadt, nicht nur wegen des guten Biers und der leckeren Würstchen. Überhaupt der Osten: Dorothea Heintze ist schwer verliebt in alle neuen Bundesländer. Immer noch entdeckt sie so viel Neues und hört spannende Geschichten, die sie gerne weiter erzählt.
Der Austausch:
Im Februar tauschten Dominique Bielmeier und Anne Buhrfeind für drei Wochen ihre Schreibtische, ihre tägliche Arbeit, ihre Fahrräder und sogar die Ehrenämter. Während dieser Zeit tauschten sie sich im Blog in Briefform über ihre Erfahrungen im Osten bzw. Westen aus. Aus Anlass der Landtagswahl in Sachsen nahmen Sie die Korrespondenz wieder auf.
28. November - "Wo waren die starken ostdeutschen Stimmen?"
Liebe Dominique,
danke für Deinen Beitrag, traurig, die Geschichte Deines Onkels und auch Deiner Großmutter. Ich finde, wir sollten an dem Thema Ostrente/Westrente dranbleiben. Das betrifft einfach zu viele Menschen in unserem Land, und die müssen wissen, was auf sie zukommt.
Es ist immer wieder interessant, über was ich so stolpere, wenn ich für unseren Blog recherchiere. Letzte Woche beispielsweise war ich auf einem Workshop des Vereins Pro Quote Medien, da sind wir beide dabei, denn wir beide wollen, dass auch in den Medien endlich mehr Frauen an die Spitze kommen. Bei den Regionalzeitungen beispielsweise sind von 108 Chefredakteursstellen nur 8 (acht!) weiblich besetzt. Ein Witz - wir schreiben das Jahr 2019!
Und auf diesem Workshop kamen natürlich auch KollegInnen mit ostdeutscher Biografie zu Wort und es ging noch mal generell um die Rolle der Frau - in der DDR und in der BRD. Was hatte wer wo erreicht, wer war wo wie weiter in den Fragen der Gleichberechtigung. Nun haben Frauenquote und Abtreibungsrecht wirklich gar nichts miteinander zu tun. Aber es ging um ostdeutsche Lebensläufe, ihre Brüche und ihre Kontinuitäten - und dazu gehörte für diese Frauen auch der ganze Bereich Schwangerschaftsabbruch und die gesetzlichen Regelungen dazu.
Seit Kurzem streiten wir ja wieder intensiv darüber, konkret um das sogenannte "Werbeverbot" für Schwangerschaftsabbrüche, den Paragrafen 219a. In der DDR war der Schwangerschaftsabbruch seit 1972 innerhalb der ersten 12 Wochen legal. Mit der Wiedervereinigung wurde das ostdeutsche Recht, nun ja, ich vereinfache das hier mal, mehr oder weniger abgeschafft, fortan galt eine viel strengere, dem westdeutschen Recht angepasste Regelung.
Das Abtreibungsrecht ist ein schwieriges Thema. Zu Recht gibt es darüber Streit. Was ich völlig unabhängig davon aber mal wieder erschreckend finde: Mit welcher Radikalität auch hier den DDR-Bürgern in der Zeit nach der Wiedervereinigung die eigene Geschichte, die eigene Auseinandersetzung mit politischen Rechtsfragen, mit Traditionen und eingeübten gesellschaftlichen Normen genommen wurde.
Wäre ich in der DDR geboren, hätte mich das stinkwütend gemacht. Ich glaube aber auch: Ich hätte mich als DDR-Frau stärker eingebracht in die Diskussion. Wo waren die starken ostdeutschen Stimmen, als es um die Gesetzesänderungen ging? Wenn ich einen Namen aus dieser Zeit erinnere, dann ist es immer wieder Alice Schwarzer. Finde ich schade. Die Schriftstellerin Jana Hensel hat das Thema vor einigen Monaten auch aufgegriffen. Ihr Fazit: "Fortan galt die bundesrepublikanische Realität, völlig egal, aus welchen Gründen sich die DDR zu einem anderen Weg entschlossen hatte."
Mh... Ja, das von mir heute, liebe Dominique. Ich lerne viel, seit wir uns schreiben.
Freu mich auf deine Antwort und wünsche Dir jetzt erst mal einen guten 1. Advent.
Kleines PS: Jana Hensel haben wir für unser Dezemberheft interviewt.
Deine Dorothea
20. November - Würde mein Onkel ohne den eisernen Vorhang noch leben?
Liebe Dorothea,
ich gebe zu, ich habe noch nicht allzu viel über meine Rente nachgedacht, das Thema ist für mich einfach noch zu weit weg. Nur ab und zu frage ich mich, wenn ich mal wieder eine Renteninformation zugesendet bekomme, ob ich später tatsächlich einmal von dem Betrag werde leben können – wenn immerhin noch Steuern und Versicherungen abgehen werden.
Da hat es deine Generation doch noch deutlich besser, die ja gerne noch früher in Rente gehen möchte, was, wie du schreibst, angeblich ein Trend ist. Und die derzeitige Politik scheint sich in der Frage auch nicht viel um meine Generation zu scheren, die irgendwann vielleicht sogar einmal ganz ohne Rente dastehen wird, weil der Generationenvertrag dann einfach nicht mehr funktioniert.
Kannst du verstehen, dass ich den Gedanken noch gerne von mir schiebe?
Aber in unserem Blog geht es ja nicht um Alt und Jung, sondern eigentlich um Ost und West. Also zurück zum Thema. Im Osten wird ja viel weniger geerbt als im Westen, auch deutlich seltener Immobilien. Ich persönlich kenne niemanden, der schon einmal etwas geerbt hat (was natürlich auch eine Altersfrage ist), aber auch niemanden, der einmal auf ein großes Erbe zu hoffen braucht und das schließt mich selbst ein.
Und obwohl ich es Menschen gönne, von ihren Verwandten etwas vermacht zu bekommen, sehe ich doch auch die Ungerechtigkeit, wenn so große Vermögenswerte vererbt und gleichzeitig kaum Steuern darauf fällig werden. Das bekräftigt soziale Ungerechtigkeitein, auch zwischen Ost und West.
Jetzt bin ich schon ans Lebensende gesprungen, dabei ging es dir doch erst mal um Ost- und Westrente. Du schreibst von schlimmen Lebenssituationen vieler Rentner in den neuen Bundesländern auf der einen, „lückenlosen Erwerbsbiografien“ auf der anderen Seite. Meine Oma gehört wahrscheinlich eher zur ersten Kategorie, denn obwohl sie seit ihrem 14 Lebensjahr gearbeitet hat – ihre Eltern waren leider der Meinung, dass man als Mädchen keine Ausbildung braucht, weshalb nur ihr Bruder eine Lehre machen durfte – hat sie nicht gerade eine lückenlose Erwerbsbiografie.
Ihr Sohn erkrankte sehr früh sehr schwer, und um ihn zu pflegen, blieb sie jahrelang zu Hause, eine Zeit, die ihr nicht angerechnet wurde. Heute bekommt sie gerade mal die Mindestrente oder nur wenig mehr, ich muss noch einmal nachfragen. Vielleicht – oder sogar wahrscheinlich – wäre das anders, wenn sie in einem westdeutschen Bundesland gelebt hätte.
Und vielleicht würde sogar ihr Sohn, mein Onkel, noch leben, der bis zu seinem viel zu frühen Tod mit Ende 20 falsch behandelt wurde, weil die Ärzte eine falsche Diagnose gestellt hatten. Ohne den eisernen Vorhang nur wenige Kilometer von meinem Heimatort entfernt, hätte man ins Nachbarland fahren und sich zumindest eine zweite Meinung einholen können.
Wenn dieser Blog etwas düster ausfällt, dann vielleicht ja, weil Buß- und Bettag ist – und wir in Sachsen heute besonders viel Zeit zum Nachdenken über solche Dinge haben, wo wir doch das einzige Bundesland sind, in dem heute noch ein gesetzlicher Feiertag ist. Super Sache, die aber einen Haken hat: Bei der Pflegeversicherung bezahlen wir deshalb mehr. Irgendwas ist eben immer.
Einen schönen Buß- und Bettag wünscht dir
Dominique
18. November - Das große Rentenrätsel
Liebe Dominique,
an einen jungen Hüpfer wie Dich vielleicht eine dumme Frage, aber hast Du schon mal über Deine Rente nachgedacht?
Ich werde ja bald 60 und da fand ich es an der Zeit, mich (mal wieder) beraten zu lassen. Immerhin hatte ich schon vor Jahren dafür gesorgt, dass mein Rentenkonto "geklärt" ist; will heißen, ich habe nachweisen können, wann ich wo zur Schule gegangen bin, studiert oder Praktika im Ausland gemacht habe und wie lange ich in der Erziehungszeit meiner Kinder zu Haus geblieben bin.
Jetzt also ein neuer Anlauf. Es hat Wochen gedauert, bis ich einen Termin bekam. Anscheinend wollen sich zurzeit unglaublich viele, vor allem ältere Menschen beraten lassen. Stell Dir vor, in meinem Bekanntenkreis hören schon jetzt einige auf zu arbeiten. Zwei haben fett geerbt, andere gehen in Frührente und arbeiten daneben noch weiter; wieder andere sind in Altersteilzeit. In den Medien lese ich: Das ist ein Trend.
Ist das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen? Einerseits kenne ich echt viele Leute, die viel zu viel arbeiten und dadurch krank werden. Andererseits sind wir die Generation, die Euch, den Jüngeren, extrem lange auf der Tasche liegen wird. Und nun hören viele Silver-Ager einfach früher auf, weil sie geerbt haben und es sich leisten können? Finde ich komisch.
Aber sorry, ich schweife ab. Ich wollte eigentlich erzählen, dass ich bei meinem Termin bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) einen Super-Berater hatte. Ein bisschen habe ich jetzt verstanden, warum ich wann welche Rente kriege und wie welche Punkte wofür zählen. Ich hab ja auch einen gradlinigen Lebenslauf.
Wie wäre wohl meine Situation, wenn ich in der DDR gelebt und gearbeitet hätte? Wie schaffen das all die Leute, in Dresden oder Erfurt, ihre Rentenkonten lückenlos zu klären, bei den vielen Umbrüchen in ihrem Leben? Ein Bekannter von uns ist als junger Mann 1989 über die grüne Grenze in den Westen geflohen, hat dann erst mal ziemlich lange bei Verwandten gewohnt, bevor er mit dem Studium beginnen konnte. Zählen diese Monate für ihn bei der Rentenberechnung mit? Was muss er für Papiere beibringen? Ich werde ihn mal fragen.
Und dann ist letzte Woche die Grundrente verabschiedet worden. Ich habe mich gefragt, wer von uns Normalmenschen versteht den Unterschied zwischen Ost- und Westrenten? Mal lese ich, Ostrenten seien gar nicht so viel niedriger, weil es eben oft "lückenlose Erwerbsbiografien" gab. Dann wieder höre und lese ich von schlimmen Lebensituationen vieler Rentner in ostdeutschen Bundesländern.
Wusstest Du, dass die Höhe der Rente, die jemand bekommt, vom Arbeitsort und nicht vom Wohnort abhängt? Will heißen, wer in Ostberlin arbeitet und in Westberlin wohnt, bekommt Ostrente. Echt schräg aus meiner Sicht wird das Ganze dann, wenn der Arbeitgeber jahrzehntelang in Westdeutschland seinen Geschäftssitz hatte und dann, vielleicht erst vor kurzem, z.B. nach Ostberlin gezogen ist. Für alle Angestellten heißt das nämlich: Sie bekommen eine Ostrente, auch wenn sie fast ihr ganzes Leben lang nach westdeutschen Kriterien gearbeitet haben und entlohnt wurden. Und nun frage ich mich: Ist das für die Betroffenen eine gute oder schlechte Nachricht? Wie gesagt: Nicht immer sind Ostrenten niedriger...
Meine Güte, was für ein Durcheinander! Ich kann nicht wirklich darüber schimpfen, denn wer will und kann das alles vorhersehen und durchschauen? Auch Politiker und Fachreferenten sind ja keine Hellseher und müssen immer wieder neu lernen. Trotzdem finde ich, dass man darüber sprechen sollte. Wie immer würde mich mal interessieren, ob das Thema in Dresden relevant ist. Vielleicht kennst Du ja auch ein paar Fälle und kannst etwas erzählen? Ich freu mich, von Dir zu hören!
Schöne Grüße
Dorothea
12. November - Die realistische Rebellion
Liebe Dorothea,
Diskussionen über den Klimawandel gibt es natürlich auch in Dresden, auch wenn hier bei Fridays for Future wahrscheinlich nicht die gleichen Massen zusammenkommen wie in Hamburg. Aber vor ein paar Wochen gab es zum Beispiel eine Aktion von Extinction Rebellion, bei der die Aktivisten einen Brunnen in Dresden grün gefärbt haben. Danach haben sie sich in das giftig aussehende Wasser gelegt und tot gespielt. So wollten sie auf den Zustand der Ozeane hinweisen und was das für dessen Tierwelt – und letztlich auch uns – bedeuten könnte. Im Dresdner Stadtrat wird außerdem diskutiert, ob auch unsere Stadt den Klimanotstand ausrufen sollte. Eine Entscheidung dazu wurde vorerst vertagt, aber sicher nicht für lange.
Dass die Jugend den Erwachsenen gerade mal richtig Druck macht, finde ich großartig. Bestimmt führt das in den Familien zu Diskussionen und Streit, auch in Dresden, aber gab es das nicht immer schon? Sich von den eigenen Eltern abzugrenzen, ist doch ein wichtiger Teil der eigenen Identitätsfindung. Umso besser, wenn das mit etwas Sinnvollem wie Umweltschutz verbunden wird.
Und jetzt höre ich im Hinterkopf schon wieder die hämischen Stimmen, die nicht glauben wollen, dass das Engagement der Jugend mehr ist als eine kurze Laune, angestachelt durch einen schwedischen Teenager. Die aufzählen, was die Jugendlichen trotz vermeintlichen Umweltschutzabsichten alles falsch machen: ihr Pausenbrot in Plastik einwickeln, zur Abifahrt ins Ausland fliegen, sich von den Eltern mit dem SUV zur Schule bringen lassen. Voller Genugtuung werden Beispiele von Kindern (!) aufgezählt, die selbst gegen ihre hohen moralischen Ansprüche verstoßen. Dann lehnen sich die Kritiker selbstzufrieden zurück, als wäre es besser, erst überhaupt nichts richtig machen zu wollen, als es wenigstens in vielen Dingen zu versuchen.
Erst vor wenigen Tagen haben Schüler den Dresdner Stadträten ihre Visionen für die Zukunft vorgestellt. Wobei „Visionen“ eigentlich viel zu hoch gegriffen ist, was die Schüler wollen, ist nämlich alles andere als unrealistische Spinnerei: Sie stellen sich eine autofreie Stadt vor, wollen Gemeinschaftsgärten, Grünflächen auf den Dächern und auf Wartehäuschen, bessere Geh- und Radwege, mehr Mülleimer und verpackungsfreie Läden.
Nur rund 20 der 70 Dresdner Stadträte waren der Einladung gefolgt, dafür kamen noch ein Dutzend Stadtbezirksbeiräte und etliche Vertreter aus kulturellen Einrichtungen sowie Dresdens Zweite Bürgermeisterin Annekatrin Klepsch. Wieso sollte man Kindern zuhören, die noch gar keine richtige Ahnung vom Leben haben (geschweige denn wählen dürfen)? Dafür hatte ein Schüler eine gute Erklärung: „Ich finde, es ist sehr wichtig, dass Kinder mitbestimmen, denn die Welt gehört nicht nur den Erwachsenen.“
In diesem Sinne schaue ich hoffnungsvoll in die Zukunft
Deine Dominique
24. Oktober - Hat das gereicht?
Liebe Dominique,
danke - Sambalita muss ich unbedingt mal probieren, obwohl ich gegen süße Getränke in meiner Kindheit eigentlich immunisiert wurde: Bei uns gab es damals TriTop, ein in meiner Erinnerung wirklich unfassbar süßes und künstliches Zeug, das mit Wasser verlängert wurde. Erlebt gerade ein Revival, vermutlich aus den gleichen Gründen wie bei Euch Sambalita: Die gute alte Zeit... oder so.
In Frankfurt war ja letzte Woche Buchmesse: Klima, Klima, Klima, hießen da die Themen, auch bei uns am chrismon-Stand: Unser Klima-Blogger Franz Alt war da, und auch ARD-Wetter-Moderator Sven Plöger, auf den eine ganze Horde junger Mädchen wartete, die ein Autogramm haben wollten. Klima ist ein junges Thema. Auch Luise Neubauer, das deutsche Gesicht von Fridays for Future stellte, allerdings leider nicht bei uns, ihr neues Buch vor. Unglaublich, was da immer für ein Andrang herrschte. Sie ist ein echter Star und erst 23 Jahre alt.
Ich habe gelesen, dass sie in Hamburg auf das gleiche Gymnasium wie ich gegangen ist. Kaum im Studium hat sie sich politisch engagiert, auch schon ein paar Jahre vor Fridays for Future.
Mh, was hab ich eigentlich so auf der Schule und mit 23 gemacht? Ich glaube, ich fand mich damals sogar engagiert: Ich bin bei Ostermärschen gegen die AKWs mitgelaufen, hab gegen dicke Autos geschimpft, fand damals schon innerdeutsche Flüge vollkommen schwachsinnig. Später als Familie haben wir früh auf ein Auto verzichtet (das ging in Hamburg auch prima ohne). Das Gemüse für die Kinder hab ich auf dem Ökomarkt gekauft; ich hab Grün gewählt, ich hab Vereine und Bürgerinitiativen mit gegründet und schreibe seit Jahren regelmäßig Artikel über Bio-Landwirtschaft, alternative Energien oder Entwicklungszusammenarbeit. Reicht das?
Unsere Söhne, 22 und 24 Jahre, beide engagiert und politisiert, finden: Nein! „Wieso habt Ihr nicht mehr demonstriert?“ „Warum seid Ihr nicht politisch aktiv?“ „Wieso sind wir damals eigentlich nach Portugal in den Urlaub geflogen?“ – usw. usw. Anstrengende Diskussionen, finde ich. Aber auch gute Diskussionen. Wir haben viele Freunde, schon immer ging es bei uns am Esstisch heiß her – aber seit Kurzem reden wir wieder viel mehr über Politik. Um unsere Verantwortung in der Gesellschaft, um grundsätzliche Umbrüche, ja sogar um Revolutionen und Umsturz.
Wie ist das bei Euch? Spielt Fridays for Future in den Familien eine Rolle? Wir hatten das ja grad im letzten Blog mit den Generationengesprächen. Und jetzt frage ich schon wieder: Reden junge Leute mit ihren Eltern auch darüber bei Dir in Dresden?
Ja, das würde mich interessieren.
Auf bald liebe Dominique
Deine Dorothea
16. Oktober - "Es war nicht alles schlecht"
Liebe Dorothea,
überrascht es dich, wenn ich dir sage, dass es mir geht wie deiner Interviewpartnerin Sophie Kirchner - und ich kaum mit meiner Familie über die DDR-Zeit gesprochen habe? Vielleicht liegt es daran, dass die DDR schon Geschichte war, als ich gerade erst anfing, meine Umwelt so richtig zu begreifen. Ich habe die Zeit vor der Wende nicht mehr bewusst erlebt, hatte kein Pionierhalstuch und habe nie erfahren müssen, dass es eine Grenze gibt, über die man nicht gehen darf. Wenn zum Beispiel meine Oma von "hüben" und "drüben" sprach und dabei mit dem Kopf vage Richtung Hügel zeigte, der unser kleines südthüringisches Dorf auf einer Seite begrenzte, dann dachte ich, sie meint bloß Bayern, das direkt dahinter beginnt - und nicht "den Westen" als Ganzes.
Heute denke ich mehr über Ost und West nach, was nicht nur mit diesem Blog zu tun hat, sondern auch mit dem Mauerfall-Jubiläum. Fast täglich erscheint in unserer Zeitung und auf Sächsische.de ein Artikel dazu. "Junge Frauen aus Ostdeutschland haben sich seit der Wiedervereinigung zur flexibelsten, mobilsten und am besten ausgebildeten Bevölkerungsgruppe der Republik entwickelt", lese ich zum Beispiel in einem Text über Ostfrauen, der fragt, ob diese das Rollenmodell der Zukunft seien. Fast 65 Prozent der Frauen in Sachsen arbeiten heute, erfahre ich, das ist der Spitzenwert in Deutschland. Im Osten gibt es auch mehr weibliche Führungskräfte und allgemein kehren Frauen nach der Geburt eines Kindes häufiger in Vollzeit in den Beruf zurück.
Wäre das heute auch so, hätte es die Teilung Deutschlands nie gegeben? In der DDR war gesetzlich festgeschrieben, so heißt es im Artikel weiter, "dass eine Eheschließung die Frauen nicht an der Ausübung eines Berufes hindern durfte und die Öffnungszeiten von Krippen und Kitas, die früh und in großer Zahl gebaut wurden, sich nach den Arbeitszeiten der Mütter richten mussten". Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal so deutlich schreiben würde, aber: Es war nicht alles schlecht.
Fast zeitgleich während ich das tippe, sagt mein Kollege, der mir gegenüber sitzt (und die DDR gut zehn Jahre länger erlebt hat als ich), denselben Satz am Telefon - versprochen, das ist gerade kein dramaturgischer Trick. Und er schiebt sogar scherzhaft noch eine Begründung nach, die - ich gebe es neidvoll zu - ein wenig cooler klingt als meine oben zitierte Statistik zu berufstätigen Frauen: "Polikliniken und Partykeller und Sambalita selbst gemacht!"
So gehen übrigens viele von uns Ossis mit dem Thema DDR um: mit viel Humor. "Dafür bin ich '89 nicht auf die Straße gegangen" sagen wir zum Beispiel, wenn gerade irgendwas, auch etwas völlig Banales, irgendwie Mist ist. In der Kantine ist das vegetarische Gericht heute wieder nur Grießbrei? "Dafür bin ich '89 nicht auf die Straße gegangen!"
Sambalita gibt es heute übrigens immer noch, noch so ein Ost-Produkt, das überlebt hat. Wenn du dich fragen solltest, wie man ausgerechnet in der DDR einen Maracuja-Likör selbstmachen konnte, wo es schon kaum Bananen gab: Die Leute waren eben erfinderisch.
Lass es dir schmecken!
Deine Dominique
9. Oktober - Redet Ihr mit euren Eltern, Nachwendekinder?
Liebe Dominique,
sorry mit der Fehl-Info zu Rotkäppchen-Sekt. Klar, der wird natürlich im schönen Freyburg abgefüllt und die Entwicklung der Marke ist ja auch eine echte Erfolgsgeschichte, wie Du schreibst. Also, dann sollten wir in Freyburg anstoßen: auf die Öffnung der Mauer vor 30 Jahren.
Du warst ja damals noch ein kleiner Hüpfer, ich war schon Ende zwanzig. Seitdem habe ich mich oft gefragt: Wie wäre ich in den Nachwendejahren damit umgegangen, meine ganze Jugend und Studienzeit in einem Land verbracht zu haben, was es auf einmal nicht mehr gibt? Hätte ich meinen Kindern davon erzählt, wie es gewesen war in der DDR? Was wäre ich geworden? Vielleicht auch Journalistin, für ein dann linientreues Blatt? Was hätte ich verschwiegen? Was geschönt?
Eines ist mir an dieser Stelle sehr wichtig: Nicht ansatzweise will ich die DDR-Zeit mit der Nazi-Zeit vergleichen! Mir geht es hier ausschließlich, wirklich ausschließlich, um die Generationenfrage und da kann man Parallelen ziehen. Meine Eltern hatten ihre Jugend in der Nazizeit erlebt. An endlosen und teilweise sehr desaströsen Sonntag-Morgen-Frühstück-Streitgesprächen ging es bei uns zu Hause oft nur darum: „Wieso habt Ihr nichts mitbekommen von den KZs? Haben Eure Eltern etwa Hitler gewählt?“
Mein Vater, Jahrgang 1919, hatte als 20-jähriger junger Soldat ein Bein verloren. Nun saß er da mit seinem Holzbein und schwärmte immer wieder auch von Kameradschaft und "dollen Streichen", mitten im Krieg. Ich, die 15-Jährige, verurteilte ihn scharf. Für mich war alles aus dieser Zeit des Teufels und jeder Soldat war für mich irgendwie auch ein Nazi. Es muss meinen Vater tief getroffen haben. Doch das habe ich alles erst Jahre später mit ihm klären können. Immerhin: Wir haben miteinander geredet.
In den letzten Wochen lese und höre ich unheimlich viel von den Nachwendekindern. Da gehörst Du ja auch dazu.
Kennst Du zum Beispiel „Mensch, Mutta“ von Katharina Thoms? Eine Tochter interviewt ihre Mutter, die ein halbes Leben lang in der DDR gelebt und gearbeitet hat. Als alleinerziehende Mutter hat sie sich mit zwei Kindern ohne großes Brimborium all die Jahre durch den Alltag gekämpft. Wunderschön, wie die beiden miteinander ins Gespräch kommen: über den Arbeitsdienst der Mutter, über das Scheitern aller Berufsträume nach einem lächerlichen Schulboykott; über den ersten Urlaub nach der Wende oder über die Männer, die sich einfach so davon gemacht haben. Ich lernte so viel über das Leben in der DDR; dazu ist alles so warmherzig geschildert, trotzdem nicht verklärend und dazu auch noch ganz großes Radio. Die Reihe wurde übrigens ausgezeichnet mit dem Grimme-Online-Award.
Und hier gleich noch ein Podcast-Tipp, du merkst, ich bin im Hörrausch: Vier Tage Angst. Bärbel, die Mutter des Münchener Journalisten Till Otlitz, wollte 1973 als junge Frau aus der DDR fliehen. Der erste Versucht scheitert dramatisch. Während die eigene Mutter, versteckt in einem Minilaster von US-Soldaten, den Weg über die Grenze in Berlin schafft, bleibt Bärbel zurück und muss sich in den folgenden Tagen vor den Häschern der Stasi und der Polizei in der DDR verstecken. Ich kann dir sagen: Ich hing am Kopfhörer, alle Folgen durchgebinget, jeder erfundene Krimi hätte nicht spannender sein können.
Aber: Ich bin ja schließlich Journalistin und so kann ich auch selbst fragen. Zum Beispiel die Fotografin unserer chrismon-November Titelgeschichte Der Sound des Westens. Die in der DDR-geborene Fotografin Sophie Kirchner hat Menschen gefunden, die wissen (und auch noch im Besitz haben!), was sie damals mit den 100 Mark Begrüßungsgeld gekauft haben. Ich habe Sophie für unsere Podcast-Reihe „Wie hast Du das gemacht“ vorletzte Woche in Berlin getroffen.
Und da hat sie mir ins Mikro genau das gleiche erzählt, was ich in letzter Zeit schon so oft im Podcast und Büchern gehört und gelesen habe: Bei ihrer Recherche ging es Sophie nicht nur um Aufarbeitung der DDR-Geschichte im Allgemeinen, sondern vor allem um ihre eigene Geschichte. Sie selbst, so erzählte sie mir, habe zu Hause fast nie über die DDR-Zeit mit ihren Eltern geredet. Das Land aus dem sie kommt: für sie eine Leerstelle.
Zum Schluss dann hier noch ein Sendetipp im good old Fernsehen. In diesem MDR-Beitrag über Nachwendekinder und ihre Suche nach der eigenen Vergangenheit kam der Soziologe Daniel Kubiak zu Wort. Ich fand interessant, was er erzählt: Der Begriff „ostdeutsch“ werde in der Presse und Öffentlichkeit zu über 80 Prozent negativ konnotiert. Sprich, wenn ein junger Mensch seine Eltern fragt, wie war das Leben denn so in „Ostdeutschland“, dann erwartet er (oder sie) eigentlich automatisch etwas Negatives.
Und da bin ich wieder bei mir und meinen Eltern: Wenn das Wort „Nazi“ oder „Drittes Reich“ oder was auch immer aus dieser Zeit bei uns zu Hause fiel, dann hätte ich gar nicht zugelassen, dass meine Eltern auch etwas Positives erzählen. Erst später, als ich erwachsen war und selbst Kinder hatte, durfte meine Mutter ungeschminkt mit mir darüber reden, wie toll sie ihre BDM-Zeit fand. Ich ließ ihr ihre Vergangenheit.
Wie sagt es Soziologe Kubiak: So ein Transformationsprozess dauert 30 bis 50 Jahre. Und jetzt sei man eben erst bei der Halbzeit. Na dann - auf viele weitere Blogs mit dir, liebe Dominique!
Herzliche Grüße
Dorothea
2. Oktober - 30 Jahre Wiedervereinigung: Sekt oder Selters?
Liebe Dorothea,
herzlich willkommen in unserer illustren Ost-West-Runde und danke für die Einladung zum Sekt – das Rotkäppchen müssten wir allerdings wohl heimlich nach Wackerbarth einschleusen, das wird nämlich in Freyburg an der Unstrut gekeltert, nicht in Radebeul. Dort gibt es aber auch sehr guten Sekt und Wein – das sage ich übrigens nicht nur, weil ich für eine Reportage dort schon einmal selbst Trauben gelesen habe. (Bei 30 Grad und in der Steillage. Aber ich will nicht klagen, denn ich gebe zu: Ich habe währenddessen viel genascht.)
Rotkäppchen ist trotzdem ein gutes Stichwort, bei dem Sekt handelt es sich immerhin um eine der bekanntesten Ost-Marken, die heute mit einigem Erfolg bundesweit verkauft wird. Auch bei euch in Frankfurt habe ich welchen gefunden, als ich Ende Februar ein Abschiedspaket für die Kollegen in der chrismon-Redaktion geschnürt habe. Zwei Monate später, im April, haben wir vermeldet, dass die Kellerei beim Umsatz erstmals die Eine-Milliarde-Euro-Marke überschritten hat – 25 Jahre nach der Wiedergründung des Unternehmens aus den Händen der Treuhand.
Du hast recht, es hat sich unglaublich viel verändert seit der Wiedervereinigung, du ahnst gar nicht, wie viel. Und auch ich ahne das nicht so richtig, weil ich damals einfach noch zu jung war. Aber dann schaue ich mir eine große, bunte Grafik an, die in den nächsten Tagen im Rahmen einer Serie zum Mauerfall in unserer Zeitung erscheinen wird, und staune. Die Grafik vergleicht Dresden im Wendejahr 89 mit heute, in den verschiedensten Punkten: von der Einwohnerzahl, der Lebenserwartung bis hin zum Wasserverbrauch und der Zahl der Verkehrsunfälle.
Immer wieder bin ich überrascht. Wusstest du, dass es in Dresden damals über 23.000 Wohnungen gab, die nicht bewohnbar waren? Heute sind es nur noch rund 1.200. Dass die Quecksilberkonzentration in der Elbe damals den oberen Schwellenwert um das 25-Fache überschritten hatte? Heute gibt es keine Überschreitung mehr. Und auch der riesige Unterschied in der Zahl der Verkehrsunfälle: gut 2.100 damals, über 15.000 heute.
Vieles ist besser geworden, die Menschen leben heute länger, bekommen wieder mehr Kinder und können heute wie damals eines von 16 Kinos in der Stadt besuchen. (Interessanterweise ging damals eine Million Menschen mehr in die Vorstellungen, obwohl sich die Zahl der Sitzplätze seitdem verdoppelt hat.)
Aber was die Grafik zum Beispiel nicht zeigt: Auch in Dresden wird der Wohnraum knapp, die Mieten steigen – natürlich ist es längst nicht so schlimm wie in Frankfurt, aber wahrscheinlich geht es bald in dieselbe Richtung. Auch meine kleine, bisher noch ungewöhnlich günstige Wohnung wird gerade vom neuen Eigentümer nach Leibeskräften gentrifiziert, das erste Schreiben, das uns Mieter erreichte, war eine Mieterhöhung um 20 Prozent. Vielleicht war meine Wohnung vor 30 Jahren ja mal eine von jenen, die unbewohnbar waren? Schwer vorstellbar heute. Ob auf die fertige Sanierung mit einem Glas Rotkäppchensekt angestoßen wurde? Ich mache mir auf jeden Fall am Donnerstag eine Flasche auf. Zur Feier der Wiedervereinigung.
20. September - Ganz schön neu, ganz schön anders
Liebe Dominique,
Achtung, Achtung: Nein, das ist nicht Anne Buhrfeind, die jetzt hier schreibt, sondern ihre chrismon-Kollegin Dorothea Heintze, also ich.
Du, Dominique, weißt es ja schon: Anne hat mich gefragt, ob ich für die nächste Zeit das Blog-Schreiben übernehmen kann. Klar, mache ich super gerne. Ost-West-Themen interessieren mich schon seit ewigen Zeiten – oben anbei ein Beispiel. Diesen Artikel habe ich 1992 in meinem Job als Reiseredakteurin für das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt geschrieben. Das gibt es jetzt nicht mehr: Es wurde zu chrismon. Die Zeiten ändern sich, und das ist gut so.
Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Pressereise. Wie beeindruckt ich von den guten Saale-Unstrut-Weinen war. An die ersten bescheidenen Anfänge des Weingutes Wackerbarth. Auf meinem Schwarz-weiß-Foto scheint das kleine Häuschen ganz in weiß zu strahlen; tatsächlich aber war es damals noch ziemlich schmuddelig grau. Letztes Jahr waren mein Mann und ich mal wieder in der Gegend: Jetzt glänzt wirklich alles schneeweiß. Wackerbarth ist zu Deutschlands erstem "Erlebnisweingut" geworden. Junge, Junge, das hat sich alles ganz schön verändert seit damals.
Denn damals war gerade die Sächsische Weinstraße gegründet worden. Heute ist sie schwer beliebt bei den Touristen. Wie viele Hotelbetten Meißen heute wohl hat? 1992 waren es 45. Und was ist wohl aus meinen Gesprächspartnern von damals geworden? Ich erinnere noch sehr intensive Gespräche mit einer Riege von Winzern, damals Alter um die 45, die der ganzen anstehenden Privatisierung schon damals mehr als skeptisch gegenüber gestanden hatten: Wackerbarth war ja mal das „VEG Weinbau Radebeul“, also ein volkseigenes Gut, dann kam es in den Besitz des Freistaates Sachsen. Doch die Teil-Privatisierung scheiterte und 1999 wurde es eine GmbH.
Gibt es meine Gesprächspartner von damals noch? Was denken sie heute über die Entwicklung des Weinanbaus in Sachsen? Also: Ich sehe – da gibt es viel Gesprächsbedarf. Wir haben ja schon Äppelwoi in Frankfurt und Alsterwasser in Hamburg zusammen getrunken. Beim nächsten Mal könnten wir uns doch auf ein Glas Rotkäppchen-Sekt in Wackerbarth treffen. Ok?
Darauf freut sich
Deine Dorothea
2. September - Der Tag danach
Liebe Anne,
ich sitze an meinem Schreibtisch und mir brummt der Schädel von letzter Nacht. Nein, ich habe nicht zu viel getrunken, das Brummen kommt vom stundenlangen Blick auf bunte Säulendiagramme und lange Listen mit Prozentzahlen. Zusammen mit ein paar Kollegen habe ich fast bis ein Uhr morgens live über die Landtagswahlen in Sachsen berichtet.
Das Ergebnis dürfte ja bereits bis zu euch in Frankfurt vorgedrungen sein: Die CDU bleibt mit 32,1 Prozent stärkste Kraft, die AfD folgt mit 27,5 Prozent, Die Linke – einst zweitstärkste Kraft – erreicht dieses Mal bloß 10,4 Prozent, Grüne 8,6 und die SPD nur noch 7,7 Prozent. Nicht ganz so schlimm, wie ich prophezeit hatte, was das Ergebnis der AfD angeht. Aber dass über 600.000 Menschen in Sachsen die Rechtspopulisten gewählt haben, schockiert mich trotzdem.
Vor allem, da sie es laut einer Befragung zu 70 Prozent tatsächlich aus Überzeugung getan haben. Weil sie die politischen Forderungen gut finden. Anders als in Brandenburg übrigens, wo gut die Hälfte der knapp 300.000 AfD-Wähler den anderen Parteien nur einen „Denkzettel“ verpassen wollte. Ist das nicht ein wenig die Logik von kleinen Kindern, die aus Wut über ihre Eltern von zu Hause weglaufen und dann feststellen, dass sie sich plötzlich ganz allein an einem fremden Ort befinden?
37 Sitze werden die Rechtspopulisten in unserem Landtag nun einnehmen, mehr als SPD, Grüne und Linke zusammen. Übrigens dank kräftiger Unterstützung aus Meißen: Fast im gesamten Landkreis wurde die AfD stärkste Kraft. Wie auch in großen Teil der Sächsischen Schweiz, in Bautzen und Görlitz. Immerhin sieht es so aus, als würde die CDU ihr Versprechen einhalten, nicht mit den Rechtspopulisten zu koalieren.
Trotzdem: Die Stärke der AfD wird unser Land verändern. Die Debatte wird sich noch weiter nach rechts verschieben, ganz schleichend, gerade weil die AfD ja „nur“ Opposition ist. Fünf Jahre haben die Menschen Zeit, sich daran zu gewöhnen, dann machen vielleicht noch mehr von ihnen ihr Kreuz bei der vermeintlichen Alternative. Vielleicht war das keine schlechte Idee von deiner Mirijam, Dresden zu verlassen. Die Sprüche wegen ihrer Hautfarbe würden hier sicher nicht weniger werden.
Jetzt habe ich ziemlich schwarz gemalt, oder eher blau, denn man kann es ja auch so sehen: Über 70 Prozent der Wähler haben ihr Kreuz eben nicht bei der AfD gemacht – und das bei einer ungewohnt hohen Wahlbeteiligung von 66,6 Prozent. In Dresden haben sogar über 72 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Das heißt auch, mehr Menschen sind zur Wahl gegangen, um einen Sieg der Rechtspopulisten zu verhindern; die AfD konnte zwar sehr viele Nichtwähler mobilisieren, aber nicht immer zu ihren Gunsten.
Bevor ich dir heute nur von der Wahl schreibe, will ich dir noch etwas anderes erzählen: Am Freitag habe ich die Hochzeit meiner besten Freundin im Spreewald gefeiert. Das Paar wurde unter einem wunderschönen Dom aus ineinander verflochtenen Weiden getraut, bei den Eheversprechen flossen reichlich Tränen – bei Brautpaar wie Gästen – und zum Kaffee gab es neben Torte auch die spreewaldtypischen Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl.
Den Samstag verbrachten mein Freund und ich dann zu großen Teilen auf der Spree: beim Paddeln in einem Zweierkajak. Falls du das noch nie getan hast, bekommst du hiermit meine absolute Empfehlung. Auf dem Wasser ist es wunderschön, wie das Licht durch die Bäume fällt und der Fluss manchmal sogar regenbogenfarbig schimmert. Die Leute auf den hölzernen Spreewaldkähnen, die vorbeifahren, grüßen bierselig, und in einer kleinen Bucht am Ufer liegt ein verlassenes braunes Boot, das so offensichtlich einem Neonazi gehören muss, dass wir trotz allem anfangen laut zu lachen, mein Freund und ich. Das Boot heißt „Eva 88“.
28. August - So deutsch, deutscher geht's nicht
Liebe Dominique,
Dresden ist die spannendste Stadt Europas, so, so. Für uns als Journalistinnen ist es schwer, sich darüber nicht zu freuen.
Trotzdem gruseln wir uns ein bisschen, wir hier im langweiligen Frankfurt. Aber nicht alle. Manche kriegen das gar nicht mit, erzählte mir gestern Mirijam Hache, 22. Mirijam aus Dresden, zahnmedizinische Fachangestellte, seit zwei Jahren in Frankfurt, seit zwei Wochen Schülerin auf der Fachoberschule. Sie hat hier schon Leute kennengelernt, die gar nicht wüssten, wo Dresden liegt. Sachsen? Nie gesehen. Vielleicht mal gehört. Ich staune.
Aber der Türsteher vor dem Klub, in den Mirijam wollte, der wusste Bescheid. Er lachte laut, als er in ihren Ausweis guckte. "Aus Dresden bist du! Wie hast du das denn gemacht?" Ich bin da geboren, hat ihm Mirijam erklärt. Da wird er erst recht gestaunt haben, denn Mirijam hat eine Hautfarbe, die in Frankfurt nichts Besonderes ist, aber in Dresden? Ihre Mutter ist Sächsin, ihr Vater Tunesier mit südafrikanischen Wurzeln.
Zuhause in der Dresdener Neustadt ist ihr das als Kind nicht so aufgefallen, dass sie die einzige Dunkelhäutige im Viertel war, aber später in der Grundschule hat sie Schimpfwörter kennengelernt – "die waren speziell für mich, so konnte man niemand anderen nennen."
"Ich wollte umziehen, seit ich zehn war", sagt sie. Ein paar Jahre später traf sie dann auch andere junge Leute mit dunklerer Haut, denn: "Man kannte sich, wenn man farbig war. Wir guckten HipHop-Videos, Youtube, es konnte auch ganz cool sein."
Wir essen fette Eisbecher in der vielleicht besten Eisdiele Frankfurts. Mirijam, was haben die Leute zu Ihnen gesagt, was waren das für Sprüche? Es waren manchmal Komplimente, weil sie "so gut Deutsch spricht". Oder sie hörte, nicht direkt an sie gerichtet, sie sei eine Ausländerin, und die seien "hier unerwünscht". Und die Physiklehrerin fand es wohl lustig, ein Quiz zu veranstalten, bei dem die Lösung "Neger" hieß.
Was sie an Frankfurt mag: die Weltoffenheit. Dass sie sich hier nicht so anders vorkommt. Aber ist sie nicht auch hier manchmal die einzige Dunkelhäutige im Kino? Mirijam lacht. "Och, so ein paar Nordafrikaner oder Asiaten sind da auch immer. Das reicht schon." Ihr Großvater hatte damals übrigens Bedenken gehabt, als sie umziehen wollte. "Das kannst du doch nicht machen, Miri, da gibt’s doch so viele Ausländer, das ist gefährlich!"
Wo fühlte sie sich fremd? "Als ich meinen Vater in Tunesien besucht habe. Da hat man keine Privatsphäre in den Häusern, die Leute werfen den Müll auf die Straße... Ich bin so deutsch, deutscher geht’s nicht. Ordnung, Struktur, Pünktlichkeit, das ist meins."
Mirijams Freund ist Grieche. Also, er ist Deutscher, aber seine Eltern sind aus Griechenland. Er fühlt sich griechisch, sagt Mirijam. Und sie wirkt nicht so, als käme ihr die Welt, in der sie lebt, sonderlich kompliziert vor.
Wie erlebt sie Dresden, in diesen Zeiten? Neulich wollte sie doch mal "Pegida gucken", aber dann war’s ausgefallen. Auf die Gegendemo geht ihre Mutter. "Pegida", sagt Mirijam , "das sind die Unzufriedenen. Die Älteren. Aber Dresden ist doch viel mehr! Dresden ist so schön! Und die Jüngeren sind sowieso ganz anders. Meine Mutter sagt: In zwanzig Jahren ist das vorbei."
Aber dann erzählt Mirijam noch von ihrer Berufsschule in Dresden, wo es in Gemeinschaftskunde ein Wahl-Spiel gab. Von 22 Schülerinnen haben sich fünf für die NPD entschieden. Fünf für die AfD.
Ja, Dresden ist spannend, auch von hier aus. Tschüss, Mirijam!
Und tschüss, liebe Dominique. Halte uns unbedingt auf dem Laufenden...
26. August - Grüße aus der spannendsten Stadt Europas
Liebe Anne,
wie schön, wieder von dir zu lesen! Du hast recht, es hat sich viel verändert seit unserem Austausch. Wenn wir heute tauschen würden, dann säßest du an einem großen Newsdesk im Dresdner Haupthaus der Sächsischen Zeitung, wo es manchmal zugeht wie in einem Taubenschlag. Ständig kommt ein Reporter herein und liefert eine News oder schickt eine kurze Nachricht von unterwegs. Dann wird dazu nachrecherchiert, Bilder ausgesucht, vielleicht noch passende Tweets eingefügt, damit die Geschichte schnell online gehen kann. Von wegen Zeitung ist langsam (oder nur auf Papier). Und von wegen Sommerloch!
Wir haben so viele Themen, dass wir kaum hinterherkommen. Sehr vieles dreht sich natürlich um die anstehende Landtagswahl. Ständig findet irgendwo ein Wahlforum statt – und die Bürger besuchen sie zu Hunderten. Am Samstag zogen rund 40.000 Menschen bei der Unteilbar-Demo durch Dresden, um ein Zeichen für Solidarität zu setzen. Das sonst manchmal etwas verschlafen wirkende Dresden ist so politisiert wie lange nicht.
Bevor ich meine neue Stelle angetreten habe, war ich mit Kollegen zu Besuch bei Welt.de in Berlin, um zu schauen, wie die das dort so anstellen mit diesem Internet. Der Chefredakteur Ulf Poschardt begrüßte uns in der Morgenrunde als die Kollegen aus „der derzeit spannendsten Stadt Europas“. Nicht London, nicht Paris oder Rom – Dresden. Deshalb hat Welt.de auch keinen geringeren als Deniz Yücel zur Wahlberichterstattung zu uns entsandt, andere Medien gleich ganze Delegationen von Reportern. Alle schauen gerade auf Dresden und Dresden schaut leicht errötet zurück, angesichts von so viel Aufmerksamkeit.
Errötet? Eher erblaut. Denn deshalb schauen sie ja alle: Könnte die AfD bei der sächsischen Landtagswahl tatsächlich als stärkste Kraft hervorgehen? In den Prognosen liegt gerade wieder die CDU mit 30 Prozent vorne, gefolgt von der AfD mit 24 Prozent. Aber zu oft lagen die Prognosen auch schon falsch, nicht jeder gibt beim Anruf der Meinungsforscher gerne zu, dass er die AfD wählt. Ich persönlich rechne inzwischen mit 30 Prozent für die Rechtspopulisten. Ob die anderen Parteien, vor allem die CDU, dann zu ihrem Wort stehen, auf keinen Fall mit der AfD eine Koalition einzugehen?
Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich – ganz klein, denn ich bin ja jetzt im Hochhaus – auch ein AfD-Plakat. Es ist unverkennbar mit der übergroßen Zeile in rot-blauer Optik. Bei den anderen Parteien ist die Farbenlehre dagegen etwas durcheinander geraten, die CDU setzt auf grün, die SPD schämt sich wohl etwas für ihr rot und plakatiert hellblau, was die Freien Wähler ärgert.
So sind hier alle ein wenig auf Identitätssuche und zwischen allem blinkt das grüne Licht der E-Roller. Die haben auch Dresden erobert, von meinem Fenster aus sehe ich alleine vier Stück. Vielleicht fahren manche damit sogar zu Pegida. Der nächste „Spaziergang“ ist heute Abend.
22. August - Elektrische Roller und braune Blätter
Liebe Dominique,
ein halbes Jahr später, ein halbes Jahr nach unserem Austausch. So viel ist passiert inzwischen! Und dann auch wieder wenig.
Immerhin liegt kein Schnee mehr. Drei kalte, aber erlebnisreiche Februar-Wochen war ich in Meißen an der Elbe und habe versucht, deinen Job zu machen, als Elblandreporterin bei der "Sächsischen Zeitung". Und Du warst in Frankfurt bei chrismon. Hast in meinem Viertel gewohnt – ich in der Kleinstadt.
Meine Beiträge für die "Sächsische" sind längst in die Archive gerutscht, während Du ganz aktuell in chrismon stehst. Der sächsische Waldbesitzer, den Du für uns befragt hast. Der hat ja so geklagt über den Zustand des Forstes, dass wir im Frühsommer dachten, der übertreibt ein bisschen. Inzwischen wissen wir es besser.
In Frankfurt rollern jetzt die Banker in ihren Anzügen, die 14-Jährigen, die Verliebten elektrisiert durch die Stadt, das gab es im Februar noch nicht, als Du hier warst! Aber in Dresden rollern sie bestimmt auch. Am Wochenende sah ich zwei nicht mehr ganz junge Frauen auf E-Rollern, Musliminnen mit Kopftuch, sie strahlten vor Freude.
Leider fühlt es sich hier mitten im August schon herbstlich an. Braune Blätter, Bäume, die von oben kahl werden – erstaunlich, wie man sich dran gewöhnt. Und wie wir den Sommer trotzdem genießen, wenn wir draußen in den Apfelweingärten über den Klimawandel diskutieren... und über das politische Klima. Das lässt hier auch niemanden kalt.
Und worüber redet Ihr? Wie geht es in Meißen, was hast Du dort erlebt? Ich habe gehört, Du hast neuerdings einen Job in der Zentrale der "Sächsischen" in Dresden, war das ein schwerer Abschied von der Provinz? Und, Dominique, das will ich natürlich auch wissen: Auf welche Wahlplakate guckst Du von Deinem Schreibtisch? Ist ja jetzt die heiße Phase. Kann man noch miteinander reden? Und marschiert die Pegida immer noch montags vor dem Pressehaus?
Schreib mal wieder, Dominique, wir würden uns freuen!
1. März – Ich hab' noch einen Koffer in Meißen
Liebe Dominique,
wo wohl mein Koffer ist? Hat ihn die Post etwa stehenlassen? Okay, macht nichts, ich hol ihn gern selber. Nicht heute, nicht an diesem Wochenende. Aber vielleicht nächstes.
Mal wieder nach Sachsen! Das wär’ schön.
Im Koffer liegt die gute Flasche vom Weingut Mariaberg, die ich von deinen Kollegen zum Abschied bekam. Ebenso wie die Bücher über Meißen, über die Elbe und die Biografie über Karl May, die sie mir geschenkt haben, die guten Kollegen. Ach, die Elbe und Karl May, das wären noch schöne Ostblog-Themen gewesen, und mir fällt noch vieles ein, was ich verpasst habe.
Jetzt erzähle ich hier in Frankfurt, in der chrismon-Redaktion, bei meinen Freunden richtig viel vom Osten. Meine Lieblingsgeschichten dabei: Wie ich nach drei Wochen weniger verstanden hatte als nach drei Tagen. Wie ich mit dem Volontär über die Sachsen und die Bayern sinniert habe (die Sachsen sind schneller...), dass ich immer wieder gehört habe, ich solle nicht so viel mit den Frustrierten reden, sondern lieber mit den anderen, die was bewegen wollen. Dass es davon wirklich viele gibt. Dass ich auch mehr über Magazin- und Lokalredaktion rede, über Arbeitsweisen, Arbeitsbedingungen, Ausprägungen von Kollegialität – und die wunderbare Erfahrung, dass man Dinge auch ganz anders regeln kann, als ich das kenne. Dass es gut tut, sich in einer anderen Umgebung bewegen zu lernen...
Und dass ich gleich am ersten Abend nach dem Schüleraustausch Heimweh nach Sachsen bekam. Als ich nämlich bei einem festlichen Essen neben einem Winzer aus Rheinhessen saß, der mir weismachen wollte, wir hätten zu viel Sozialneidsteuern in Deutschland.
Der Wein von der Elbe – auch ein verpasstes Thema. Auf der Flasche in meinem Koffer steht „Edition Frieden“, und die Winzerin Anja Fritz berichtet auf ihrer Webseite, dass sie diesen Roséwein ihren engagierten Mitarbeitern aus Syrien, Tschetschenien und Pakistan gewidmet haben. Liebe Meißener Kollegen, danke noch mal!
So viel ich auch gesehen und gelernt oder nicht verstanden habe – viel mehr fehlt noch. Geht es dir auch so, Dominique? Nächstes Mal, sagen meine Kollegen, wollen sie Dir Offenbach zeigen. Und ich soll Dich von den afghanischen Herren aus dem Deutschkurs grüßen.
Tschüssi!
25. Februar – Post aus Fernost
Liebe Anne,
weißt du, was ich sehen würde, wenn ich jetzt vom Bett aufstünde und die paar Schritte bis zum Balkon ginge? Drei hübsche, weiß gestrichene Häuschen, aus deren Schornsteinen grauer Rauch in den Abendhimmel aufsteigt. Zwischen den beiden rechts von mir rauscht ein Bach hindurch, er ist in der Dunkelheit nur zu hören. In der Luft liegt der Geruch von brennenden Holzscheiten. Für die einen Feinstaub, für die anderen die pure Gemütlichkeit. Und zwischen allem: Schnee! Bestimmt einen Meter hoch.
Anne, ich bin zurück im Osten, aber sowas von. Nicht Meißen, nicht Dresden – Polen. Nach meinem Ausflug in den wilden Westen hat es mich zum Urlaub hierher verschlagen, rein zufällig, nicht als bewusste Antithese zur Bankenstadt mit ihren Hochhäusern und dauerhupenden SUVs. Wobei: Dass ich nach drei Wochen Frankfurt am Main nun in einem Fachwerkhäuschen mit dem Namen „Haus am Bach“ sitze, hat schon irgendwie etwas Symbolisches.
Unglaublich, dass unser Austausch schon wieder vorbei ist. Hattest du mir nicht gerade erst von deinen Porzellantassen erzählt, auf die ich mich freuen kann? Ich habe es geschafft, keine davon zu zerbrechen. Auch dein Ofen funktioniert noch, obwohl ich ihn mit Kuchen für Kollegen und Interviewpartner ziemlich strapaziert habe. Nur zum Abschied habe ich es nicht geschafft, selbst etwas zu backen, stattdessen habe ich für die Redaktion ein kleines „Ostpaket“ geschnürt: Rotkäppchensekt, Spreewaldgurken, Bautzner Senf, Dinkelchen, Mozartkugeln von Halloren. Mehr habe ich nicht gefunden auf die Schnelle. Wo ist das Russisch Brot aus Dresden, wo sind die Filinchen und wo steht Nudossi? Da müsst ihr wirklich noch nachbessern, wenn das mit der Ost-West-Verständigung irgendwann klappen soll.
Oder vielleicht auch nicht, denn was ich vor allem gelernt habe, ist: So verschieden sind wir eigentlich gar nicht. Das verschlafene Meißen hat ein Drogenproblem, das reiche Frankfurt auch. Wie bei uns mit der Elbe hat auch Frankfurt eine „richtige“ und eine „falsche“ Mainseite – und über die Frage, welche nun welche ist, scheiden sich die Geister. Was für uns Dynamo Dresden, ist für euch Eintracht Frankfurt. „Apfelwein mit Cola ist wie Urlaub in Offenbach“, sagte neulich ein Kollege zu mir, als es um die einzig wahre Zubereitung des Kultgetränks ging. Da musste ich an die Rivalität von Dresden und Leipzig denken, die etwa gleich groß sind und deshalb oft miteinander verglichen werden. In Leipzig trinkt man gerne „Gose“, ein obergäriges Bier, von dem man sagt: „Dem einen steigt sie in den Kopf – dem andern in die Hose.“ Ich wage zu behaupten, wer eine Gose pur trinken kann, der wird auch mit ungespritztem Apfelwein fertig.
In meinem Küchenschrank in Dresden steht zwar noch immer kein Meissener Porzellan, aber jetzt ein echtes „Geripptes“. So heißt ja bei euch das Apfelweinglas mit der Rautenstruktur. Ein Abschiedsgeschenk meiner – jetzt wieder deiner – Chrismon-Chefin. Wie ich gehört habe, bist du mit einer Flasche Sachsenwein von deinen – bald wieder meinen – Kollegen bei der Sächsischen Zeitung in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen. Bestimmt hast du über unseren Wein tausend Geschichten gehört, so wie ich über euren und auch über das Gerippte. Das soll diese besondere Waben-Struktur nämlich haben, damit man es auch mit fettigen Fingern noch gut halten kann. Früher aß man ja oft ohne Besteck.
„Aber kennst du auch die andere Geschichte?“, fragte mich eine Kollegin später verschmitzt lächelnd. Das Gerippte soll nämlich auch deshalb gerippt sein, damit sich das Licht schöner bricht. Und der Inhalt des Glases dadurch weniger wie Urin aussieht. Vielleicht die einzige kleine Anekdote, die ich bei euch erlebt habe, für die ich nicht krampfhaft nach einer sächsischen Entsprechung suche...
Liebe Anne, willkommen zurück in Frankfurt! Und hoffentlich bis bald – do zobaczenia wkrótce!
22. Februar – Vom Einkaufen auf dem Lande
Liebe Dominique,
kürzlich hat ja jemand hier gefragt, ob man das empfehlen kann mit dem Perspektivwechsel. Natürlich! Was für eine Frage. Andere Wege zur Arbeit, neue Kollegen, neue Themen, das tut gut. Einfach mal sehen, worum es anderen Menschen geht. Und dass manches so ähnlich ist. Und dann doch anders. Nehmen wir mal an, ein Frankfurter Drogenfahnder soll seinen Job mit einem Meißener Polizisten tauschen. Na prima, wird der Frankfurter denken. Ein bisschen Graffiti, Streit in der Kneipe, Trunkenheit am Steuer, das ist ja wie Urlaub! Und was wird er hier finden? Ein Drogenproblem. Erzählt der Kollege von der Sächsischen Zeitung, der Gerichtsreporter. Crystal Meth ist hier das Thema. Und Beschaffungskriminalität. Das Crystal Meth wird in Tschechien gekocht und nach Sachsen geschmuggelt, ein schöner Nebenverdienst für Nebenberufsdealer. Konsumenten, sagt er, gibt es hier reichlich, auch wenn ich sie nicht sehe.
Das ist auch so eine Sache. Was man nicht weiß, das sieht man nicht. Für mich ist Meißen noch so touristenhübsch, ich sehe nicht die Leute in den Hauseingängen. Ich nehme die Senioren nicht wahr, die ihre Rente mit Drogenschmuggel aufbessern. Davon hat mir Walter Hannot erzählt, der seit 1991 in der Stadt ist und ihre Licht- und Schattenseiten kennt. Hannot, Mitglied der CDU und zugleich Mitglied der Bürgerinitiative „Bürger für Meißen“, ein Rheinländer, hat hier schon mehrere Häuser renoviert. Er liebt Meißen und ist zugleich enttäuscht und entsetzt von der Hartnäckigkeit, mit der sich Rückwärtsgewandtheit und Rückständigkeit halten – in einer bestimmten Generation, nämlich meiner. Und da natürlich nicht bei allen.
„Das Land“ – er meint den ländlichen Raum – „ist zurückgeblieben, die jungen Leute gehen weg.“ Meißen ist der Landkreis mit der ältesten Bevölkerung in der Bundesrepublik, die Majorität der Alten wird sich hier noch lange halten. Hannot hadert sehr mit der Sachsen-CDU – außer mit dem Ministerpräsidenten Kretschmer. „Hier ist die CDU der linke Flügel der AfD.“ Trotzdem lässt er nicht nach in seinem Engagement. Er hat den Kulturverein mitgegründet, will mit seiner Bürgerinitiative in den Stadtrat einziehen.
Tatsächlich gibt es viel zu tun. Rund 100 Läden stehen leer, viele Wohnungen auch, die Durchmischung stimmt nicht, sagt Hannot, Chef einer Werbeagentur in Dresden, Berlin und anderen Städten.
Auch das sehe ich erst allmählich. Wenn ich morgens dein Rad durch eine fast menschenleere Kleinstadt schiebe, auf dem Marktplatz ein einzelner Gemüsestand mit einem einzelnen Kunden. Aber dann am Bahnhof: ein Einkaufszentrum mit den üblichen Verdächtigen. Ein bisschen weiter Aldi und Lidl. Kein Wunder, dass die Läden in der Altstadt nicht laufen. Vielleicht tobt das Leben auf der anderen Seite der Elbe, wohin ich zur Arbeit radele, aber ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, mir das genauer anzuschauen. Meißen ist zu groß für einen so kurzen Schüleraustausch.
Drei Wochen. Hast du gesehen, dass wir Trendsetter sind? Der Opernintendant in Wuppertal und der Direktor eines Umweltinstituts wollen jetzt auch ihre Jobs tauschen, auch für drei Wochen. Am 28. Februar geht’s los. Viel Spaß und Erleuchtung, meine Herren!
21. Februar - Plaste, Broiler, Popgymnastik
19. Februar - Die Räder sind überall grün
Der Frühling im Februar, die Ossi-Quote und die Römerstraßen.
17. Februar - Das Ende von Ossi und Wessi
Die ersten echten Frühlingstage locken nach draußen - und lassen manchmal wehmütig zurückblicken.
15. Februar - Trauer in strahlendem Weiß
In ihrem Schmerz sind sie wirklich ergreifend, die Porzellanfiguren in der Meißener Nikolaikirche. Aber: Sie platzen...
14. Februar - Babbeln beim Ebbelwoi
12. Februar - Der Sachse sächselt
Wie sind die so, die Leute? Vielleicht sind sie ruhiger. Bis einer kräht...
11. Februar - Wie mich (auch) die Kanzlerin zum Ossi machte
Was ein Stiefel mit dem Mauerfall zu tun hatte und warum wir einander endlich zuhören sollten.
10. Februar - In welchem Alter hast du das erlebt?
Als die Mauer fiel war Dominique drei und Claudia zwölf. Über den Umgang mit Umbrüchen.
8. Februar - Der Quoten-Ossi berichtet
7. Februar - Leuchtende Augen
In Meißen schlägt die Turmuhr. Und ein Architekt erinnert sich an die Buschzulagenkassierer.
6. Februar - Anne, ich habe eine Beschwerde!
Im turbulenten Frankfurt ticken die Uhren anders als im Osten und manchmal ist die Zeit eine Pizza.
6. Februar - Entspannt vergleichen
Warum ist Meißen nur so weiß? Und was ist eigentlich eine Bezahlschranke?
31. Januar - Gucken, mit und ohne Brille
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Dominique Bielmeier freut sich auf die große Stadt und erklärt, warum sie früher dachte, dass drüben alles besser ist.