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Paris, Frankfurt, Böhlen

Christine und Hubert Hellbach leben in Böhlen. Das Dorf gehört zu Riesa. Allerdings wären die beiden lieber Hirschsteiner.

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© Sebastian Schultz

Von Britta Veltzke

Riesa. Eine Preisfrage zum Einstieg: Welche Verbindung gibt es zwischen Böhlen sowie Paris, Frankfurt am Main und Moskau? Tatsächlich gibt es eine Gemeinsamkeit – auch wenn man es kaum wagt, die Metropolen mit dem Riesaer Dorf in einem Atemzug zu nennen: Alle Orten lagen an der Via Regia, der ältesten und längsten Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa. Hubert Hellbach weiß das ganz genau. Er deutet auf eine historische Landkarte. „Hier steht es: ,Böhle‘. Von hier aus ging die Straße weiter über Heyda nach Boritz. Dort war die Furt durch die Elbe.“

Der wohlhabende Bauer Reinhardt mit seinem neuen Auto.
Der wohlhabende Bauer Reinhardt mit seinem neuen Auto. © privat
Böhlen liegt am südlichen Rand des Riesaer Stadtgebietes. Wer an dieser Stelle steht, hat die Mehltheuer Straße, die zum alten Bahnhof von Prausitz führt, im Rücken.
Böhlen liegt am südlichen Rand des Riesaer Stadtgebietes. Wer an dieser Stelle steht, hat die Mehltheuer Straße, die zum alten Bahnhof von Prausitz führt, im Rücken. © Sebastian Schultz

Hubert Hellbach und seine Frau Christine sind Böhlener Urgesteine. Wobei – ganz richtig ist das auch nicht. Denn der 72-Jährige ist ein Zugezogener. Von weither kommt er jedoch nicht. „Ich bin in Jahnishausen aufgewachsen.“ Dem Nachbardorf also. Christine Hellbach hingegen ist in dem Haus, in dem das Paar heute zu zweit lebt, aufgewachsen. „Mein Großvater hatte hier eine Tischlerei. Als wir eine Wohnung suchten, hat er die Werkstatt zugemacht, und wir sind mit in das Haus gezogen.“ Als die beiden Kinder geboren wurden, waren sie plötzlich zu acht – vier Generationen unter einem Dach. Eigentlich hätte das junge Ehepaar eine Wohnung in der Stadt bevorzugt. „Damals kam hier nicht mal warmes Wasser aus dem Hahn. Aber wir hatten keine Wahl. So war die Situation in den 60ern in der DDR eben“, sagt Hubert Hellbach. Bereut haben sie es nicht. „Wir hatten großes Glück, dass wir uns hier alle gut verstanden haben“, meint Christine Hellbach. Heute könnte es fast ein bisschen lebhafter sein, doch die beiden Hellbach-Kinder sind längst erwachsen und haben eigene Familien. Sie leben in Gera und Berlin.

Ein aussterbendes Dorf ist Böhlen aber nicht. „Die Häuser stehen nie lange leer, wenn jemand stirbt oder wegzieht“, erzählt Frau Hellbach. Es seien in den letzten Jahren viele neue Dorfbewohner hinzugekommen. „Das Schöne ist, dass hier niemand schräg angeschaut wird oder Probleme hat, sich einzuleben, nur weil er zugezogen ist.“ Besonders den Hundebesitzern falle es leicht, sich zu integrieren. „Das passiert ganz von allein, wenn die sich beim Gassigehen treffen“, so die 68-Jährige. Bemerkenswert fand sie, als im letzten Sommer eine neue Familie das Dorf zum Kennenlernen einlud.

Böhlen

Einwohnerzahl: 53

Häuserzahl: 32

Gründungsjahr: 1334

Der Bus stoppt werktags 22-mal an der Dorfhaltestelle. Am Wochenende hält der Bus nur bei vorheriger Absprache in Böhlen – und zwar bis zu sechsmal am ganzen Wochenende.

Entfernung zum nächsten Bäcker/Lebensmittelladen: 1,6 Kilometer ist die Bäckerei in Prausitz (Gemeinde Hirschstein) entfernt – näher als der nächste Riesaer Bäcker in Oelsitz.

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Es sind eher die alltäglichen Dinge, über die sich die Böhlener freuen. Denn es gibt quasi nichts im Dorf – keine Lebenstraumgemeinschaft wie in Jahnishausen, kein Wohnkulturgut mit überregional bekannten Veranstaltungen wie in Gostewitz, kein Bäcker, keine Tankstelle. „Ein typisches Dorf, in dem sich Hase und Igel gute Nacht sagen“, kommentiert Christine Hellbach. Trotzdem lebt sie gerne hier. „Man ist ja schnell in Riesa. Mit dem Auto brauche ich zehn Minuten.“ Das einzige Ärgernis der Dorfbewohner ist die alte Schäferei, die früher zum Rittergut Jahnishausen gehörte. „Das Gebäude verfällt immer weiter. Heute hausen dort nur noch die Waschbären.“

Seit 1994 gehört Böhlen zu Riesa. Die Hellbachs fühlen sich allerdings eher der Lommatzscher Pflege und damit der Gemeinde Hirschstein und Lommatzsch zugehörig. Christiane Hellbach hat ihr ganzes Berufsleben lang als Lehrerin in der Grundschule von Prausitz gearbeitet. „Ich habe den Eindruck, dass die Dörfer in der Lommatzscher Pflege ordentlicher aussehen als die, die zu Riesa gehören“, sagt Hubert Hellbach. Auch er war früher Lehrer. Vor ein paar Jahren hat er eine Unterschriftenliste initiiert. Sein Ziel: dass sich Böhlen und Gostewitz der Gemeinde Hirschstein anschließen. „Gut 60 Prozent haben sich dafür ausgesprochen. Die Liste ging an die Bürgermeister. Aber Frau Töpfer hat damals nur gesagt: Es geht nicht. Damit war die Sache für sie erledigt.“

Ganz unspektakulär ging es in Böhlen übrigens nicht immer zu. Für eine kleine Sensation muss in den 30er-Jahren der wohlhabende Bauer Bernhard Reinhardt gesorgt haben. „Er hatte eines der ersten Autos in der Gegend“, sagt Hubert Hellbach und kramt ein Bild aus seinem Sammelsurium. Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt den Bauern im schicken Dreiteiler neben seinem Automobil. Hinter ihm steht ein Mann in schlichter dunkler Hose und Weste, beladen mit Eimern. Wahrscheinlich ein Knecht. „Dem Reinhardt haben viele Flächen und der große Dreiseitenhof in Böhlen gehört – und die Fliegenschänke“, so Herbert Hellbach. Die Fliegenschänke? „So nannte man die Böhlener Gaststätte im Volksmund, die zeitweise auch von den Großeltern meiner Frau betrieben wurde.“ Woher die Wirtschaft ihren Namen hatte, wissen selbst die Hellbachs nicht. Volker Thomas vom Stadtmuseum hat zwei Theorien: „Vor der Schänke konnte man die Pferde anbinden. Das hat sicher auch Fliegen angezogen.“ Seine zweite mögliche Erklärung: „Der Gasthof Böhlen verlor mit der geänderten Straßenverbindung an Bedeutung. Pendler, die von Lommatzsch oder Riesa in den zwanziger Jahren einkehrten, sollen die Bezeichnung Fliegenschänke eingeführt haben. Er steht vielleicht für das kleine, unbedeutende Gasthaus“, so Volker Thomas.

Hubert Hellbach hält die erste der beiden Theorien für wahrscheinlicher. Wie auch immer. Es existieren noch Bilder der Gaststätte mit Hakenkreuzflaggen. 1936 wurde die Fliegenschänke dann abgerissen. Heute steht an der Stelle eine Linde.