Christoph Springer
Dresden. Das Zimmer in der vierten Etage ist leer. Wann die mehr als 90 Jahre alte Bewohnerin zurückkehrt, ist offen. Vielleicht nie, denn in diesem Zimmer ist am Mittwochabend ihre Enkelin von einem Messerstecher angegriffen worden. Die 37-Jährige lebte nach der blutigen Attacke nur noch einen reichlichen halben Tag lang. Am Donnerstagmittag starb sie in einem Dresdner Krankenhaus.
Die Bluttat vom Seniorenheim
Die Seniorin aus dem Heim „Am Gorbitzer Hang“ kannte den Täter. Es war einer ihrer Altenpfleger. Deshalb hatte der 59-jährige Deutsche aus Dresden jederzeit Zugang zu dem großen Haus mit neun Wohnbereichen. Er arbeitete bereits seit 1994 in der Einrichtung, die vom Arbeiter-Samariter-Bund betrieben wird. Rund 90 Pfleger und 110 weitere Mitarbeiter in Abteilungen wie der Küche, der Haustechnik und der Verwaltung sind in dem dreigeteilten Hochhaus an der Leutewitzer Straße beschäftigt. Der 59-Jährige fiel nicht auf.
Geschäftsführer Peter Großpietsch schlussfolgert aus seiner 24-jährigen Dienstzeit: „Er war ein guter Mitarbeiter.“ Niemand kann sich zurzeit erklären, wie es zu der Bluttat am Mittwochabend gekommen ist. „Wir sind alle wie vor den Kopf gestoßen“, sagt Großpietsch und kündigt an, alle Mitarbeiter zu dem 59-Jährigen zu befragen. Vielleicht erklärt sich dabei, warum der Mann die 37-jährige Frau angegriffen hat.
Polizeibericht vom 15.03.
Bisher ist nur das bekannt: Der Pfleger war seit August 2017 wegen einer Schulterverletzung krankgeschrieben. Dennoch hatte er Kontakt zu seinen Kollegen. Im Dienstplan, der alle zwei Monate geschrieben wird, stand er schon wieder. Über seine Wiedereingliederung sollte an diesem Freitag gesprochen werden. Doch schon zwei Tage zuvor kam er in das Heim und ging in die Wohngruppe, die er zusammen mit mehreren Kollegen betreut. 27 Senioren leben dort. Sie haben Einzelzimmer mit kleinen Bädern und ein großes gemeinsames Wohnzimmer. Es war 19 Uhr. Der Spätdienst arbeitete, der noch krankgeschriebene Pfleger lief zum Zimmer der Seniorin. Ob er genau wusste, dass dort gerade die Enkelin zu Besuch ist, gehört zu den Fragen, die die Polizei noch beantworten muss. Zu dem Messer, das er bei sich hatte, machten die Beamten keine Angaben.
Unbestätigten Berichten zufolge stach er es der Frau in den Hals. Die Verletzte schleppte sich zum Pflegerzimmer, unterdessen öffnete der Mann das Fenster und sprang in die Tiefe. Er stürzte auf ein Vordach aus Kunststoff, durchschlug die Abdeckung und fiel auf den Betonboden darunter.
Mitarbeiter des Heims leisteten der 37-Jährigen sofort Erste Hilfe, dann brachte sie der Rettungsdienst in ein Krankenhaus. Dort kämpften die Ärzte vergeblich um das Leben der Dresdnerin. Am Donnerstagvormittag starb die Frau in der Klinik.
Die Polizei hat den Tatort am Mittwochabend untersucht, Spuren gesichert, das Messer konfisziert und damit begonnen, Angestellte und Bewohner des Heims zu befragen. Auch die Heimleitung, die zur Tatzeit bereits zu Hause war, kam wieder in die Einrichtung. „Wir waren hier bis 4 Uhr beschäftigt“, sagte Geschäftsführer Peter Großpietsch am Tag nach der Tat.
Die Seniorin, in deren Zimmer der 59-Jährige zugestochen hat, konnte dort nicht bleiben. Sie ist bis auf Weiteres zu ihrer Tochter gezogen, zur Mutter des Opfers. Dort erfuhr sie am Donnerstag, dass ihre Enkelin die Attacke nicht überlebt hat.
Vor dem Seniorenheim waren am Donnerstagmittag kaum noch Spuren des Vorfalls zu sehen. Nur das große Loch in dem Vordach, auf das der Pfleger gestürzt war, erinnerte noch an das Geschehen vom Abend zuvor.
Welche psychischen Folgen der tödliche Messerangriff für die Wohngruppe hat, ist indes noch offen. An einen Umzug innerhalb des Hauses sei nicht zu denken, sagte Großpietsch. „Wir sind fast komplett ausgelastet“, so der ASB-Geschäftsführer, „da haben wir wenig Spielraum“. Wenn aber doch ein Senior den Wunsch äußert, die Wohngruppe zu verlassen, weil er das Geschehene anders nicht vergessen kann, will die Heimleitung helfen. „Dann werden wir eine Lösung finden“, verspricht Peter Großpietsch.
Die Polizei sucht jetzt nach den Hintergründen des Messerangriffs. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, in welchem Verhältnis der Pfleger und sein Opfer zueinander standen. „Sie kannten sich wenigstens vom Sehen her“, sagte am Donnerstag Lorenz Haase, der Sprecher der Staatsanwaltschaft.