Es sind Szenen wie in einem Hollywoodfilm: Erpressung, Entführung, Bedrohung, Korruption. Zutaten, die man normalerweise nur aus dem Kino kennt - für Katherine Garcia und ihren Mann Carlos Martinez aber waren sie pure Realität. Momente, die sie heute noch geschockt und traumatisiert zurücklassen, und die sie mit anderen teilen wollen, um zu verstehen, warum sie heute in Pirna leben - und nicht mehr in ihrer Heimat Venezuela.
In dem rund 28 Millionen Einwohner starken Land an der Nordküste Südamerikas, das seit Jahren in einer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise steckt, hatten sich Katherine und Carlos kennen und lieben gelernt. "Wir hatten ein für uns gutes Leben", sagt der 37-Jährige. Der gelernte Physiotherapeut hatte sich mit seiner Frau mehrere Firmen aufgebaut. Katherine, die Marketing studiert hat und erfolgreich als Model arbeitete, betrieb eine eigene Modelakademie. Carlos gründete parallel eine Produktionsfirma, die im Bereich Event-, Musik- und Videoproduktion tätig war. Zudem gehörte beiden ein Foodtruck.
Auf offener Straße entführt und erpresst
"In Venezuela braucht man mehrere Jobs, um zu überleben", erklärt Katherine. Ihre Schwester, eine Ärztin, musste einen weiteren Job annehmen. Ihr Gehalt als Medizinerin allein reicht nicht, um den Lebensunterhalt zu begleichen. Ein Schicksal, das viele Venezolaner teilen. "Es gibt nur wenige Menschen, die gut verdienen. Und die haben meist Verbindungen in die Politik", sagt Katherine in gebrochenem, aber gut verständlichem Deutsch. Der Rest müsse sehen, wie er um die Runden kommt. Eine klassische Mittelschicht, wie es sie in Deutschland gibt, gäbe es in Venezuela nicht.
Als die heute 34-Jährige vor fünf Jahren schwanger wurde, wollte sich das Paar ein weiteres berufliches Standbein aufbauen. Ihr Traum: ein eigenes Lebensmittelgeschäft. Es sollte der bald dreiköpfigen Familie mehr Stabilität und finanzielle Unabhängigkeit bringen. Doch der Traum wurde jäh unterbrochen.
Einen Tag vor der Eröffnung wurde Carlos auf offener Straße entführt. Von einer Art "Polizei", die aber keine Uniform und keine offiziellen Ausweise trägt. Carlos wurde gegen seinen Willen festgehalten. Der Grund: Erpressung. Eine gängige und willkürliche Masche in dem Land, das von dem autoritären Staatschef Nicolás Maduro regiert wird.
Notkaiserschnitt im siebenten Monat
Carlos kam zwar wieder frei. Die Bedrohungen gingen jedoch weiter. Dieses Mal trafen sie Katherine, die im siebenten Monat schwanger war. Sie kam gerade von einer Routineuntersuchung bei ihrer Ärztin. Diese stellte fest, dass nur noch wenig Fruchtwasser in der Gebärmutter vorhanden sei. Ein alarmierendes Zeichen. Katherine sollte deshalb am nächsten Tag in die Klinik kommen, um einen Notkaiserschnitt durchzuführen. Die junge Frau war in großer Sorge um ihr ungeborenes Baby - Rodrigo sollte der Junge heißen. Als sie die Praxis mit ihrer Mutter verließ, passierte es auch ihr: Männer fingen sie ab, hielten sie fest, bedrohten sie mit Schusswaffen. "Sie sagten, ich komme ins Gefängnis und muss das Baby dort bekommen. Dann nimmt man es mir weg", schildert sie emotional. Mithilfe von Freunden und der Familie kam auch Katherine wieder frei. Nachts um 3 Uhr war es. Nur vier Stunden später kam Rodrigo per Kaiserschnitt auf die Welt.
Nur einen Tag blieb die frisch operierte Mutter im Krankenhaus, am nächsten Tag floh sie zu Freunden, diese brachten sie für knapp drei Wochen in eine andere Stadt - Mutter und Baby tauchten unter. "Carlos hat seinen Sohn erst nach 20 Tagen gesehen", sagt Katherine. Für beide stand fest: Hier in Venezuela ist unser aller Leben in Gefahr.
Flucht über Kolumbien in die Türkei und nach Deutschland
Vorfälle wie diese stünden in Venezuela an der Tagesordnung, sagen Katherine und Carlos. Korrupte "Polizisten" erpressen Geld von Menschen, die einen festen Job oder ein Geschäft haben. Wer das Lösegeld nicht zahlt, läuft Gefahr, das eigene Leben zu verlieren oder zu Unrecht inhaftiert zu werden.
Die einzige Lösung, die die junge Familie sah: die Flucht aus Venezuela. Mit wenigen Habseligkeiten und dem nur ein Monat alten Sohn ging es über die "grüne Grenze" nach Kolumbien. Dort lebten sie unter falscher Identität. Eineinhalb Jahre blieben sie in Kolumbien. "Wir hatten dennoch ständig Angst", sagt Katherine. Denn sie und ihr Mann sind nicht nur durch die verschiedenen Firmen nicht unbekannt. Katherine hatte 2015 bei der Wahl zur "Miss Venezuela" mitgemacht und modelte. Ihr Gesicht war ihr Aushängeschild. Doch das war nun ein Risiko.
In Kolumbien bleiben, das wollten sie nicht. Ihr eigentliches Ziel war Europa, Deutschland. Ein Land, in dem sie sicher leben und sich eine neue Zukunft aufbauen wollen. So die Hoffnung.
Erst Berlin, dann Leipzig, Dresden, Tharandt und Pirna
Schließlich gelang es der Familie, einen Flug von Kolumbien in die Türkei zu bekommen. Von dort ging es nahtlos weiter über Berlin nach Leipzig. Den Tag, als sie in Leipzig ankamen, wird Katherine nicht vergessen. Es ist der 22. März 2022. Endlich - in Sicherheit. Die ersten Wochen lebte die Familie in Flüchtlingsunterkünften: in Leipzig und später in Dresden. Auch in Tharandt fanden sie auf Zeit eine Bleibe. Parallel lief das Asylverfahren. Im Juni dann die erlösende Nachricht: Der Asylantrag ist genehmigt.
Es folgte der Umzug nach Pirna, in eine Wohnung auf dem Sonnenstein. Die erste Zeit sei herausfordernd gewesen. "Wir haben aber viel Hilfe bekommen", sagen Katherine und Carlos. Sie selbst wollten alles dafür tun, sich schnell zu integrieren. In der Volkshochschule besuchten sie mehrere Sprachkurse. Den Lehrerinnen sind beide bis heute dankbar. Die bisherigen Kurse hat Katherine mit Bestnoten abgeschlossen. Auch das Jobcenter sei eine große Hilfe gewesen bei der Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz. Das Paar ist aktuell Vollzeit bei der Initiative "Youth Globe" angestellt, die mit Seminaren und Events die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung fördert. Zudem fanden sie beim Verein "Sonnige Aussichten" auf dem Sonnenstein schnell Anschluss, der viele Zuwanderer unterstützt. Der vierjährige Sohn Rodrigo besucht inzwischen eine Kita in Pirna, in der viele Kinder verschiedener Nationalitäten betreut werden.
Sehnsucht nach der Familie in Venezuela
"Wir fühlen uns sehr wohl in Pirna", sagt Katherine. Auch zu anderen Flüchtlingen aus Venezuela und Südamerika haben sie Kontakt. Etwa acht Millionen Einwohner hätten das Land bereits verlassen. Die Zahl könnte in den nächsten Jahren auf elf Millionen steigen, so Schätzungen. "Wenn sich politisch nichts ändert", sagt sie. Vor allem junge Menschen seien es, die im Ausland neu anfangen wollen. Katherine hat Freunde und Bekannte überall auf der Welt verstreut.
Die engste Familie ist jedoch nach wie vor in Venezuela. Eltern, Omas und Cousins. Das enge Familienband fehlt der 34-Jährigen. Vor allem im Hinblick auf Rodrigo. Er hat das Land, in dem er geboren wurde, nie kennengelernt. Für das Kind ist Pirna die eigentliche Heimat. Das wiederum macht die Eltern glücklich. "Wir sind glücklich, dass wir hier ein ruhiges und sicheres Leben leben können", sagt die Mutter. Es sei unbezahlbar, Rodrigo körperliche und geistige Sicherheit geben zu können. Deutschland wollen sie gern alles "zurückzahlen", wie Katherine sagt. Im positiven Sinn. Sie wollen sich weiter einbringen, arbeiten, mitgestalten. Das seien sie ihrer neuen Heimat schuldig.