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Wofür braucht Pirna einen Bürgerrat?

Der Stadtrat votiert dafür, einen Modellversuch zu testen. Nur die AfD stemmt sich gegen die zusätzliche Bürgerbeteiligung.

Von Thomas Möckel
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Bürgerrat-Mitinitiator Ralf Wätzig: Bürgerbeteiligung ist ein wichtiger Baustein unserer Demokratie.
Bürgerrat-Mitinitiator Ralf Wätzig: Bürgerbeteiligung ist ein wichtiger Baustein unserer Demokratie. © Daniel Förster

Pirnas Stadtrat zählt 25 Stimmberechtigte plus Oberbürgermeister. Laut der Sächsischen Gemeindeordnung vertritt der Stadtrat die Bürger und ist Hauptorgan der Gemeinde. Er entscheidet grundsätzlich über alle Angelegenheiten der Stadt.

In den Mitgliedern des Kommunalparlaments spiegelt sich auch die Stadtgesellschaft wider, allerdings nicht bis ins letzte Detail, ausgewogen paritätisch besetzt ist das Gremium nicht. So gibt es beispielsweise nur drei Frauen, auch Jüngere fehlen, der Großteil der Abgeordneten ist jenseits der 50, auch ist nicht jeder Stadt- und Ortsteil mit einem Gewählten in der Runde vertreten.

Aber so, wie der Rat derzeit zusammengesetzt ist, ist es des Wählers Wille, zuletzt manifestiert bei der Kommunalwahl im Frühjahr 2019. Gleichwohl soll nun ein etwas gleichmäßiger besetztes Entscheidungsgremium dazukommen, kein den Stadtrat ersetzendes, sondern ein ergänzendes. Es geht darum, mehr Bürgerbeteiligung zu wagen. So will es die Mehrheit der Abgeordneten, wenngleich im Vorfeld ein Streit darüber ausbrach.

Ein neues demokratisches Format für Skeptiker

In der Märzsitzung votierte der Stadtrat gegen die Stimmen der AfD-Fraktion dafür, dass Pirna einen sogenannten Bürgerrat als Modellversuch ausprobiert. Dabei wird das Rathaus mit dem sächsischen Justiz- und Demokratieministerium kooperieren, um die konzeptionellen Grundlagen zu erarbeiten. Den grundsätzlichen Auswahlprozess und die Fragestellung gestaltet die Stadt transparent, anschließend wertet sie den Modellversuch aus und diskutiert ihn mit den politischen Gremien.

Dieser Beschluss geht zurück auf einen Antrag der Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen/SPD“. Den Antragstellern geht es mit der Gründung eines Bürgerrates vordergründig darum, die Pirnaer noch direkter an wegweisenden Entscheidungen zu beteiligen und auf diese Weise die Demokratie sowie Demokratieverständnis zu fördern.

Pirna, so die Fraktion, verfüge über eine funktionierende Verwaltung. Zudem träfen die gewählten Stadträte Entscheidungen, um das Gemeinwesen zu gestalten. Einige der zu entscheidenden Fragen seien aber komplex und entzögen sich einfachen Antworten. „Entscheidungsprozesse sind dann meist langwierig, kontrovers und im Ergebnis für die Bürger schwer nachvollziehbar“, sagt Fraktionschef Ralf Wätzig (SPD).

Nicht selten werde dann sowohl den Entscheidungen als auch den Entscheidern mit Skepsis, Ablehnung oder aggressivem Verhalten begegnet. Mehr Bürgerbeteiligung könne ein Instrument sein, um die Menschen an Prozessen zu beteiligen, ihnen eine Mitsprache- und Mitmachmöglichkeit zu geben – und somit dem Gefühl entgegenwirken, dass alles über ihre Köpfe hinweg entschieden werde.

Bürgerrat hebelt nicht den Pirnaer Stadtrat aus

Aber wie funktioniert so ein Bürgerrat? Wie sich das Gremium zusammensetzt, regelt grundsätzlich ein Losverfahren, was auf einem Zufallsalgorithmus auf Grundlage des Melderegisters basiert. Demnach lost die Stadt etwa 100 Pirnaer im Alter von 16 bis 90 Jahre aus und fragt sie, ab sie in einem Bürgerrat mitwirken wollen. Mit der Rückmeldung fragt das Rathaus die generelle Bereitschaft zur Mitarbeit sowie demografische Daten wie Alter, Wohnort, Geschlecht und Bildungsstand ab – um einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abzubilden.

Am Ende des Prozesses steht erfahrungsgemäß ein Bürgerrat mit 25 bis 30 Mitgliedern. Das Gremium konstituiert sich und klärt Anzahl und Zeitpunkt von Treffen. Moderiert wird der Bürgerrat von einem neutralen Moderationsteam. Da der Stadtrat den Bürgerrat mit einer konkreten Fragestellung beauftragt, geht die Antwort wieder an den Stadtrat. Er nimmt sie zur Kenntnis und soll sie bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Das Bürgerrats-Votum ist für den Stadtrat nicht bindend, er muss dem Vorschlag nicht folgen – aber der Stadtgesellschaft den letztendlich gefassten Beschluss begründen.

Die Stadt begrüßt diesen Modellversuch und hat schon erste Schritte in die Wege geleitet. Beim Freistaat Sachsen rennt das Rathaus dabei offene Türen ein. Die Landesregierung hat bereits in ihrem Koalitionsvertrag verankert, neue Formen der politischen Bürgerbeteiligung einzuführen, um die Bevölkerung besser in Entscheidungsprozesse einzubinden. Im Februar verabschiedete das zuständige Ministerium eine entsprechende Förderrichtlinie, die Mittel können ab April beantragt werden. Auf diese Weise könnte Pirna den Modellversuch finanzieren, ohne den eigenen Haushalt zu belasten.

AfD stellt Pirnaer Bürgerrat infrage

Allerdings behagt das Bürgerrat-Modell nicht allen. AfD-Stadtrat Armin Marschall vermisst Angaben dazu, welche finanziellen Belastungen auf Pirna zukommen und stellt den Bürgerrat generell infrage – schließlich gebe es ja den Stadtrat als Entscheidungsgremium. Fraktionskollege Tim Lochner wähnte sich gar im falschen Film. Das Geschwafel von Demokratieförderung und Bürgerbeteiligung könne er nicht mehr hören. Auch müsse man aus seiner Sicht nicht jeden Versuch starten, nur weil es Fördermittel gebe. Und schließlich können sich jeder an den Stadtrat wenden oder dafür kandidieren.

Die Mehrheit der Stadträte befürwortet allerdings einen Bürgerrat. „Ich habe Spaß an der Demokratie“, sagt SPD-Mann Wätzig. Bürgerbeteiligung sei ein wichtiger Bestandteil dabei. Und man habe den Antrag nicht gestellt, weil es Fördermittel gibt. Gleichwohl böten die Zuschüsse aber jetzt die Chance, das Modell Bürgerrat zu testen.

Auch die Freien Wähler unterstützen das Modell und werben für mehr Experimentierfreude. „Wir sollten versuchen, neue Wege zu gehen, raus aus den verkrusteten Strukturen“, sagt Stadtrat Ralf Thiele. Man müsse die Menschen auf neue Wege locken, damit sie sich verstärkt für ihre Stadt und die damit verbundenen Themen interessieren.

CDU-Fraktionschefin Kathrin Dollinger-Knuth sieht ebenso in dem Bürgerrat eine große Chance, die Einwohner verstärkt und gezielt an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Und Stadträtin Maria Giesing (Bündnis 90/Die Grünen) meint: „Wer einen Bürgerrat ablehnt, hat sich noch nicht genug damit beschäftigt.“