Von Anna Hoben
Der große Tag verläuft anders als geplant. Sie wollten die neuen Mitbewohner gebührend willkommen heißen. Sie begrüßen, ihnen das Haus zeigen und den kleinen Bungalow im Garten, in dem sie künftig wohnen würden. Doch statt drei Tage vorher bekommen sie erst am selben Tag Bescheid. Mittags eine Mail, die Gäste treffen am späten Nachmittag ein, steht darin. Als die Familie nach Hause kommt, sind die Neuen schon wieder ausgeflogen. Nach einiger Zeit kommen sie von ihrem Streifzug zurück. Philippa ruft: „Mama, die Früchtlinge sind da!“

Seit die Dresdner eine Flüchtlingsfamilie aufgenommen haben, lernen sie selbst jeden Tag etwas Neues. Lektion eins: Wer sich für Flüchtlinge engagiert, muss vor allem eines mitbringen: Flexibilität.
Fünf Wochen später, ein Spätnachmittag in der Woche. Alle acht haben sich um den Wohnzimmertisch von Franziska und Ulf versammelt. Mit Jimmy sind sie sogar neun. Der kleine schwarze Kater ist ihnen vor ein paar Wochen zugelaufen, er ist jetzt das jüngste Familienmitglied und schon ganz gut integriert, nur dass man ihn manchmal vom Tisch holen muss, wenn er hinaufspringt, was er offenbar ganz gerne immer wieder mal tut.
Mit drei Kindern – Philippa ist vier, Benno sieben und Josepha zehn Jahre alt – ist es ohnehin lebendig; jetzt, mit Katze und den neuen Mitbewohnern, ist es noch lebendiger. Die Afghanen wollen gleich noch mit dem Fahrrad zum Einkaufen in die Stadt fahren, Philippa ist in Gedanken schon beim Ballett-Training, Benno will Fußball am Computer spielen, Josepha kuriert gerade eine Erkältung aus.
Tahere zieht ihr Smartphone hervor, wischt und tippt, Schriftzeichen erscheinen, dann die deutsche Übersetzung, kryptisch zwar, aber die Botschaft ist klar: „Mrs. Franziska“, steht da unter anderem, und „viel Hilfe“. Tahere strahlt. Es braucht nicht viele Worte, um zu verstehen, wie dankbar sie und ihr Mann sind, jetzt bei Franziska und Ulf leben zu können.
Die Dresdner wussten nicht, wer kommen würde. Sie wussten nicht, würden es Christen sein, Muslime, Atheisten. Sie hatten einfach beschlossen, dass sie sich einlassen würden auf das Abenteuer.
Franziska und Ulf erinnern sich noch gut an den Tag, als sie die Neuen kennenlernten: Mohamed, 34, seine Frau Tahere, 24, und ihre Tochter Sarah, vier Jahre alt, genau wie Philippa. Große Augen, schüchterne Begrüßung. Erste Verständigung: Handzeichen, vereinzelte englische, noch vereinzeltere deutsche Wörter. Sie erfuhren, dass die neuen Mitbewohner aus Afghanistan stammen, dass sie Muslime sind und ihre Muttersprache Farsi ist. Dass sie die ersten zwei Monate in Deutschland in der viel kritisierten Zelt-Notunterkunft auf der Bremer Straße verbracht haben.
Die Gastgeber führen sie in ihr neues Zuhause: 45 Quadratmeter, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad. Sie zeigen den Neuen, wie Gasherd und Fernseher funktionieren. Weil kurz zuvor die Heizung ausgefallen ist, besorgt Ulf noch zwei Heizlüfter. Als er zurückkommt, haben die Gäste ihr Gepäck ausgepackt und aufgeräumt. Es sieht schon fast wohnlich aus.
Erst Ende Mai sind Franziska, 38, und Ulf, 40, mit ihren drei Kindern in das Haus mit den zwei Bungalows im Garten gezogen. Bald kam der Gedanke, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Sie wälzten die Idee hin und her, schließlich nahmen sie Kontakt zur Stadt auf. Eine Frau vom Sozialamt kam, um zu schauen, ob die Unterkunft den Anforderungen entspricht. Und dann hieß es nur noch: Ab wann?
Seit Anfang Oktober hat die Stadt Dresden 118 solcher privaten Mietangebote für die Unterbringung von Flüchtlingen bekommen. Davon sind nur etwa zehn Prozent aus verschiedenen Gründen nicht geeignet. 30 Euro pro Tag kriegen Franziska und Ulf nun überwiesen. Hatten sie eigentlich gar keine Bedenken, bevor sie die neuen Mieter kennenlernten? Franziska überlegt, dann lacht sie. „Dass sie nicht ordentlich sein könnten.“ Das war alles. Eine kleine deutsche Sorge, die sich als unbegründet erwies. Der Bungalow mit dem herrlich kitschigen lila Teppich, den die Gäste gekauft haben, ist blitzeblank.
Lektion drei: Wer die Afghanen in ihrem neuen Zuhause besucht, muss Zeit mitbringen, mindestens für eine Tasse Tee und ein paar Apfelschnitze. So ist das mit der Gastfreundschaft der Gäste. Sie haben nicht viel, aber was sie haben, das wird geteilt. Manchmal bringt Mohamed eine Mango mit, „für meine Freundin Philippa“, sagt er dann. Einmal luden sie sogar zu einem Festschmaus ein, mit Bergen von Reis, Hühnchen, Lamm. Unglücklicherweise waren die Essens-Aufnahmekapazitäten der Dresdner an jenem Tag begrenzt; sie waren zuvor bei McDonald’s gewesen.
In Afghanistan hat Mohamed als Handwerker gearbeitet, in seinem neuen Heim geht er den Gastgebern im Garten zur Hand, zum Beispiel, indem er Laub fegt. Die wiederum sind so viel mehr als Vermieter, sie sind so etwas wie eine Ersatz-Großfamilie. Zweimal pro Woche gibt Franziska Deutschunterricht. Sie zeigt den Afghanen den Supermarkt, hilft bei Arztterminen und Behördengängen. „Es ist ein bisschen so, als hätte ich plötzlich sechs Kinder“, sagt sie. „Wenn man Integration will“, findet ihr Mann Ulf, „dann läuft es auch nur so“, mit persönlichem Anschluss.
Es schadet auch nicht, einfach mal zu schauen, wie Kinder das so machen. Freilich, manchmal versteht Philippa nicht, warum ihre neue Freundin kein Deutsch spricht. Aber Sarah lernt schnell, sie plappert einfach Wörter und Sätze nach. Vor Kurzem durfte die Vierjährige schon mal mit in Philippas Kindergarten, den sie ab Dezember besuchen wird. Das Mädchen setzte sich und fing an zu spielen. Sofort kamen die anderen Kinder angelaufen, freudig: „Hier ist ein neues Mädchen!“