Von Carmen Leuschel
Ein uriges Gartenhäuschen mitten in Radeberg. Auf dem Tisch stehen russische Blini (eine Art Plinsen), selbst gemachte Marmelade und frische Blumen. Ringsum sitzen zehn Frauen und stricken emsig Socken. Jede von ihnen hat eine sehr bewegende Vergangenheit, denn sie sind Spätaussiedlerinnen aus Sibirien und Kasachstan.
Immer mittwochs versammeln Sieglinde Mauksch und Ilona Graf die acht Aussiedlerfrauen zwischen 43 und 81 Jahren. Einige von ihnen leben schon mehr als zehn Jahre in Radeberg. „Obwohl sie schon so lange hier sind, werden sie noch immer als Ausländer betrachtet“, sagt Ilona Graf mit Bedauern. „Sie sind Deutsche, aber werden als Russen wahrgenommen und zum Teil auch beschimpft.“ Viele von ihnen leiden unter der Verachtung und Ausgeschlossenheit, die sie hier umgibt. Der Strickzirkel ist deshalb ein wichtiger Treffpunkt für die Aussiedlerinnen. Der regelmäßige Kontakt zur deutschen Welt und die Gespräche im Kreis sollen die Frauen ein Stück weit aus ihrer Abgeschiedenheit holen.
Im Strickzirkel sprechen alle miteinander Deutsch. Dazwischen mischen sich aber immer wieder russische Wortfetzen. Dennoch sind nicht nur die Strickanleitungen das Thema. „Wir sprechen viel über Politik und über das, was in der Zeitung steht“, sagt Ljudmila Klenovsky. „Und wir beraten über private Probleme und streiten manchmal über die russische Grammatik.“
Ein bewegendes Schicksal
Über ihre Vergangenheit öffnen sie sich selten. Denn die Geschichten sind oft tragisch. So wie die von Emma Mebus. Ihre Erzählung beginnt sie weit in der Vergangenheit, bei Katharina der Großen. Die hatte damals das Land an der unteren Wolga an die Deutschen verschenkt. „Keinen Pfennig Steuern hat die Zarin genommen und ein Dorf nach dem anderen ist entstanden“, erzählt Emma Mebus. Doch als der Zweite Weltkrieg kam, traf die Familien an der Wolga ein hartes Schicksal. Emma Mebus wurde 1941 zusammen mit ihrer Familie nach Sibirien vertrieben. Was dann geschah, kann sie nur unter Tränen erzählen: „Mein Vater, der zu Hause die reife Ernte zurücklassen musste, kam in die Arbeitsarmee und musste verhungern.“ Die Mutter blieb allein zurück mit drei Kindern. Emma Mebus war damals erst 13 Jahre alt. An der Wolga hatte sie noch fünf Klassen besucht. In Sibirien musste sie betteln, um nicht zu verhungern. Trotzdem hatte die Familie Glück im Unglück, bekam Hilfe von russischen Tartaren und die Mutter konnte alle drei Kinder durchbringen, das jüngste davon drei Jahre alt. Vor elf Jahren kam Emma Mebus dann nach Radeberg.
Für den Strickzirkel von Sieglinde Mauksch ist nicht nur sie mehr als dankbar. Hier finden die Spätaussiedlerinnen nicht nur den Kontakt zu anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal, sondern auch eine helfende Hand für das tägliche Leben. Denn Sieglinde Mauksch und Ilona Graf begleiten die Aussiedlerinnen zum Arzt, gehen einkaufen oder geben auch mal eine Überweisung ab. „Die Anträge bei Behörden sind manchmal so kompliziert, dass wir vor allem sprachlich weiterhelfen müssen“, erklärt Ilona Graf.
Schon 90 Paar Socken
Im letzten September hat Sieglinde Mauksch den Strickzirkel ins Leben gerufen. 90 Paar Socken für große und kleine Füße sind seit Weihnachten schon gestrickt worden. Babyschuhe und Mützen sollen dieses Jahr noch dazukommen. Zwei Spinnräder hat sie auch in ihrem Gartenhäuschen stehen. Tamara Gering spinnt damit noch selbst die Fäden und strickt dann daraus wirklich kuschelige Socken aus einhundert Prozent Wolle. Die finden ihre Abnehmer zum Beispiel im Waldkindergarten oder in der Waldorfschule in Dresden und sind besonders als Nikolausgeschenke sehr beliebt.