„1989“ war mehr als die Wende

Vor drei Jahrzehnten sind wir in das Jahr des 40. Gründungsjubiläums der DDR eingetreten. Am Ende ebendiesen Jahres taumelte sie in eine derart beschleunigte innere Auflösung, wie sie sich auch die kühnsten Denker*innen im Januar 1989 niemals vorzustellen gewagt hätten. Das Wetter war durchschnittlich in jenem Monat Januar, wie einem damals alles so durchschnittlich schien. In Dresden schwankten die Tageshöchsttemperaturen zwischen zwei und elf Grad, gegen Monatsende gab es auch mal Nachtfrost, dazwischen immerhin ein paar Sonnenstunden und Regen nur in der ersten Januarhälfte. Ein paar Zentimeter Schnee hatte man im Elbtal nur Ende November/Anfang Dezember 1988 gesehen. Ein höchst mittelmäßiger Winter.
Immerhin froren nicht die Tagebaue zu, sodass der Strom zuverlässig aus den Leitungen kam. Krasse Versorgungsengpässe bei einzelnen Produkten versuchte die Partei- und Staatsführung möglichst zu vermeiden angesichts der näher rückenden Kommunalwahl im Mai. Die blieb wie alle Wahlen in der DDR wegen ihrer Demokratieinszenierung trotz allen staatlichen Drucks nie ganz kalkulierbar für die Lenkerinnen und Lenker dieses für europäische Verhältnisse gar nicht so kleinen Staates an der westlichsten Peripherie des sowjetischen Imperiums. Mit Weltpolitik beschäftigte man sich wenig und überließ sie jener SED-Propaganda, die sich am Ende der Achtziger ohnehin nicht einmal mehr selbst glaubte. Die DDR war Provinz, tiefste Provinz. Die Widerstände, die sich zur Kommunalwahl zu formen begannen, waren lokal, die Forderungen bescheiden, die Hemden oft kariert.
Und doch stand man in Zusammenhängen, mindestens zeitlichen, deren Stränge sich über die ganze Welt zogen. 1989 ist natürlich auch das Jahr der friedlichen Revolution in der DDR, das können Millionen bezeugen. Gleichzeitig liefen aber um 1989 Ereignisketten, Wirkungen, Bedingungen zusammen, die diese sehr bemerkenswerte Revolution (von der wir wissen, dass sie in Dresden gar nicht so friedlich war) rahmten, vielleicht überhaupt erst ermöglichten. In den Jahren darauf, ab 1990, wurde dieser weite Horizont immer mal wieder schlaglichtartig sichtbar, aber für die meisten nur kurz und peripher.
Der Mythos der Einheit
Die deutschsprachigen Historiker haben diese globale Dimension von „1989“ bisher kaum thematisiert. Sie berührt einen nationalen Mythos, der den Beitritt der restituierten deutschen Länder auf dem Gebiet der DDR zur Bundesrepublik als einen in sich quasi logischen, unausweichlichen Prozess betrachtet, als nationale Glücksvollendung der Geschichte, als endgültige Antwort auf die „Deutsche Frage“. Die Einbettung in globalgeschichtliche Zusammenhänge und Gleichzeitigkeiten relativiert eine ganze Meistererzählung.
Das Ereignis „1989“ verändert sich in seinen Zäsuren, seiner zeitlichen Ausdehnung und seiner Relevanz, je nachdem, ob wir es aus deutscher, ostmitteleuropäischer, nordatlantischer, afrikanischer oder globaler Perspektive zu erfassen versuchen. Es ist deshalb das Anliegen einer global aufgeschlossenen Geschichtswissenschaft, allfällige nationale Verengungen durch die Ausarbeitung alternativer Perspektiven durchschaubar und überschreitbar zu machen. Dieses Anliegen gehorcht der Idee einer historischen Wahrheit, die in jedem Falle nur komplex und immer neu zu haben ist.
„1989“ war mehr als die friedliche Revolution. In scheinbar unwiderstehlicher Weise kam es schon seit 1988 und bis 1992 zu einer Welle politischer Befreiung und der Durchsetzung demokratischer Herrschaftsformen gegen traditionelle autokratisch regierende Eliten. Dieser weltumspannende Sieg freier Wahlen und kontrollierter Regierungsgewalt bezog sich keineswegs ausschließlich auf die Länder des sich auflösenden sowjetischen Imperiums, wie dies noch heute von den meisten vor allem in Deutschland und seinen östlichen Nachbarn angenommen wird.

In diesem Sinne irritierend ist ein nüchterner Blick auf die politische Komplexität und Verschiedenheit der gesellschaftlichen Ausgangsordnungen, die von demokratischen Ordnungen in den Jahren ab 1988 auf sehr verschiedenen Wegen abgelöst wurden. Das Spektrum reichte von ultrakonservativen Militärregimes (Chile, Paraguay, Taiwan etc.) über rassistische Minderheitendiktaturen (Südafrika, Namibia), autokratisch-monarchische Ordnungen (Nepal, Jordanien), postkoloniale westorientierte Diktaturen (Mali, Togo, Zaire etc.), postkoloniale ostorientierte Diktaturen (Angola, Äthiopien, Mosambik), bis hin – und jetzt erst kommen die bekannten Exempel von „1989“ – zu den Diktaturen des sowjetischen Imperiums in Europa und Asien; in der DDR, in Laos, in Nicaragua. Auch zwischen Ost und West lavierende Regimes gerieten in die Veränderungswelle als Demokratisierung, etwa Algerien, Jugoslawien und Albanien. Als weiteren Typ kann man die Beendigung beziehungsweise Niederlage fremder Militärokkupationen erkennen, so in Afghanistan, Eritrea, Namibia und Kambodscha.
Nicht immer waren diese Demokratisierungen nachhaltig, nicht immer waren entsprechende Bewegungen „1989“ siegreich, siehe China und Burma. Unbestreitbar ist aber wohl die Sachlage, dass „1989“ ein sehr viel bunteres Antlitz trägt, als es heute in der Regel erinnert wird, und dass sich deshalb einstrangig nationale Erzählungen Fragen gefallen lassen müssen, wenn man den historischen Tatsachen Genüge tun will. „1989“ war ein globales Freiheitsfest, ein neuer nicht nur europäischer Völkerfrühling. „1989“ konnte ein solches Fest nur sein, weil sich diesem Ereignis kaum jemand auf dieser Welt entziehen konnte, weder ein Pinochet noch ein Deng Xiaoping noch die SED-Bezirksleitung in der Devrientstraße.
Dieses nicht immer, aber doch bemerkenswert häufig „samtene“ Freiheitsfest begann nicht am 1. Januar 1989 und endete nicht am 31. Dezember; „1989“ ist eine Chiffre wie „1848“, „1918“ oder „1968“. Die Chiffre „1989“ umfasst einen langen Zeitraum, der vielleicht Anfang 1988 mit dem Beginn des Abzuges der sowjetischen Truppen aus Afghanistan den Anfang nahm. Seine Wurzeln aber erstrecken sich bis tief in die Siebziger zur „Wiederentdeckung der Gerechtigkeit“, bis zum Abkommen von Helsinki, die Charta 77, die Präsidentschaft Jimmy Carters, bis zur Friedensbewegung und der „Free-Nelson-Mandela“-Bewegung im Westen. Gleichsam ins Rutschen kamen die scheinbar so fest gefügten Dinge aber mit der Afghanistan-Konferenz in Genf. Von 1988 an folgte dann eine erfolgreiche Demokratisierung auf die nächste.
Ein deutliches Abebben dieser Welle lässt sich dann im Jahre 1992 beobachten. Teils deshalb, weil die Demokratisierung das Reservoir der Diktaturen schlicht verzehrt hatte. Teils aber auch, weil sich einige Diktaturen als hinreichend durchsetzungsstark erwiesen hatten, der Tendenz zu widerstehen, wie in China, Burma, Kuba, Vietnam, Nordkorea, Iran, Irak etc.
Huntingtons Sicht auf 1989
Man hat gelernt, auch den Kalten Krieg als globalen Ereigniszusammenhang zu verstehen. Das Ende des Kalten Krieges nun ging einher mit der Delegitimierung aller Ordnungen und Mittel, die zu seiner Austragung in die Welt gebracht worden waren. Dazu gehörten vor allem im Osten, aber eben auch an der Peripherie des Westens diktatorische, gewalttätige Regierungsformen, ebenso direkte militärische Interventionen oder Stellvertreterkriege. Diese hatten am Ende der Achtziger mit der jahrzehntelangen Blockkonfrontation ihren Zweck überlebt.
Es ist Samuel P. Huntington, der 1991 in seinem Buch „The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century“ („Die dritte Welle. Demokratisierung im ausgehenden 20. Jahrhundert“) eine Perspektive entwickelt hat, die es erlaubt, die vielschichtigen Ereignisse von „1989“ zu begreifen. Folgen wir ihm, setzt eine Welle der Veränderung 1974 mit den Übergängen zu demokratischen Regierungsformen zunächst in Portugal und Griechenland, dann in Spanien ein. Bis 1991 seien 60 Staaten demokratisch geworden. Die Jahre 1989 bis 1991 bilden in dieser Theorie einerseits nur eine Phase innerhalb eines längeren Prozesses der globalen Demokratisierung. Andererseits ist es die Phase von dessen – in Huntingtons Sicht – finaler Beschleunigung. Huntington sieht für „1989“ nicht den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums als ursächlich an. Vielmehr ordnet er diesen selbst historisch ein. Die Politik der Perestroika lässt sich in diesem Sinne als ein Katalysator für die letzte Beschleunigung der dritten Demokratisierungswelle begreifen.
Als wesentliche Faktoren der globalen Demokratisierung seit 1974 macht Huntington zunächst den Legitimationsverlust autoritärer Regierungen aus, der unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass sie ihre Diktatur paradoxerweise durch eine demokratische Inszenierung zu stützen suchten. Diesen Legitimationsverlust sieht er maßgeblich befördert durch makroökonomische Prozesse und die durch sie machtvoll gestärkte Idee einer Korrelation von Demokratie und Wohlstand. Hinzu kommt die Bedeutung der Menschenrechtspolitik, befördert auch durch religiöse Wandlungen, besonders des Zweiten Vatikanischen Konzils und des Pontifikats Johannes Pauls II. Nicht zu vergessen die regionalen „Schneeball-Effekte“ zunächst in Südeuropa, dann in Lateinamerika, darauf in Ostmitteleuropa und schließlich in einzelnen Staaten Asiens und nahezu in ganz Afrika.
Generell finden die Begriffe Wende oder Revolution in Huntingtons distanzierter Perspektive keine zentrale Verwendung. Vielmehr versucht er der Komplexität von „1989“ gerecht zu werden durch den Begriff der Transition, des Übergangs.
Letztlich markierte das Jahr 1989 den großen Übergang. Hätte man das doch in jenem trostlosen Januar schon gewusst!