Görlitz. „Jobs mit Glückauf-Garantie – Fachkräfte Erzgebirge“: Ein Lkw auf der Bundesstraße 178 zwischen Zittau und Löbau fährt diese Werbung durch die Oberlausitz. Und macht deutlich – auch wir brauchen die gut ausgebildeten Pflegekräfte, CNC-Fräser, Friseure. Die Suche nach Fachleuten – auf riesigen Plakaten, auf Autos, auf Bussen, im Internet, in Tageszeitungen – hat auch hier Konjunktur. Behörden und Wirtschaftsverbände rennen längst offene Türen ein, wenn es darum geht, Firmen aus der Oberlausitz für Jobbörsen und Ausbildungsmessen zu gewinnen. Vorbei sind die Zeiten, als das damalige Arbeitsamt noch Erwerbslosenzahlen von weit über 60000 verkündete. Suchten früher oft gut ausgebildete und berufserfahrene Männer und Frauen vergebens eine Arbeit, macht jetzt das Wort vom Fachkräftemangel immer stärker die Runde. Für manche Firmen bedroht die vergebliche Suche nach neuen Leuten die Existenz. Auf verschiedenen Ebenen werden zu diesem Thema Daten gesammelt und Lösungen gesucht. Ein Überblick.
Ein Überblick
Die Ausgangslage: Es dauert immer länger, eine freie Stelle zu besetzen
140 Tage warten auf eine Metallbau-Fachkraft, 196 Tage auf den ausgebildeten Betriebstechniker für Elektrik. 178 Tage dauerte es im April, bis eine Oberlausitzer Bäckerei einen Bäcker gefunden hatte, 199 Tage beim Maschinenbauer. Die Bautzener Arbeitsagentur hat viele solcher Zahlen parat, die deutlich machen: Freie Stellen zu besetzen ist inzwischen ein Geduldsspiel. „Sinkende Arbeitslosigkeit und hohe Arbeitskräftenachfrage“ war die Überschrift über der Arbeitsmarkt-Bilanz der Behörde für den April. Knapp 20100 Oberlausitzer waren da ohne Job, ein Minus von 6,6 Prozent im Vergleich zum März. 4503 freie Jobs konnten die Mitarbeiter zu dem Zeitpunkt vermitteln – ein Zuwachs von 133 Stellen gegenüber dem Vormonat.
Das Risiko: Ein großer Teil der Arbeitnehmer ist 55 Jahre und älter
Im Handel ist es jeder fünfte, in der Land-, Forstwirtschaft und Fischerei jeder vierte und im Bergbau sogar jeder dritte Arbeitnehmer – nämlich 55 Jahre und älter. 82000 Männer und Frauen gehen laut Arbeitsagentur in den kommenden Jahren in Rente. Um sie zu ersetzen, reicht der Nachwuchs aus der Region nicht mehr aus. Stark betroffen ist der Pflegebereich. 137 Tage betrug 2017 die Wartezeit, um eine Stelle zu besetzen. „Das ist ein harter Job mit Früh- und Spätschicht und Arbeit am Wochenende“, sagte Carola Forgo am Mittwoch auf einer Arbeitsgeberkonferenz in Weißwasser. Sie ist Pflegedienstleiterin der Diakonie-Sozialstation in der Stadt. Die Einrichtung für ambulante Pflege gehört zum Martinshof Rothenburg. Carola Forgo ist zuständig für 18 Mitarbeiter, die Hälfte geht demnächst in den Ruhestand. Forgo wünscht sich, dass die Politik den Beruf – auch finanziell – attraktiver macht, sodass es leichter wird, neue Leute zu gewinnen. Jobcenter Görlitz und Arbeitsagentur riefen Firmen bei der Konferenz auf zur langfristigen Personalplanung.
Die Sorge: Fehlende Mitarbeiter bremsen Wachstum
Die Industrie- und Handelskammer Sachsen hat vergangenen Herbst über 1170 Unternehmen zum Thema Fachkräfte befragt. In 644 waren über 3000 Stellen nicht besetzt. Am stärksten betroffen ist das Handwerk. Im Schnitt bleibe jede zweite Stelle sechs Monate und länger frei. IHK-Sprecher Lars Fiehler sieht die mittelfristige Sicherung des Fachkräftebedarfs als „eine der, wenn nicht die größte Herausforderung, vor der unsere Unternehmen stehen“. Gründe seien zum Beispiel die gute Konjunktur, die unter anderem dazu führt, dass die Baubranche an technische und personelle Kapazitätsgrenzen komme. Der Trend bei Jugendlichen gehe zum Studium. Zudem fehle Deutschland ein Zuwanderungsgesetz. Dadurch sei es schwer, ausländische Fachkräfte anzuwerben. Beim Fachkräftenetzwerk Oberlausitz, das mit 40 bis 50 Unternehmen der Region in regem Kontakt steht, beobachtet man das Problem seit zehn Jahren. Es habe sich verstärkt. In einigen Bereichen, wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe, sei es sehr schwer, Mitarbeiter zu finden. Denn durch die gute Konjunktur haben Arbeitskräfte heute die Wahl und entscheiden sich nicht unbedingt für einen Job mit Schicht- und Wochenendarbeit.
Die Ideen: Viel werben und ungenutztes Potenzial entdecken
Gerade erst hat sich die Oberlausitz auf einer Dresdner Messe als „Vielchancenland“ präsentiert. Man war angereist mit Karriereangeboten von Mittelständlern. Am 8. Juni organisieren die Wirtschaftsförderung der Stadt Bautzen und die Industrie- und Handelskammer die „Erste Bautzener Spätschicht“. Dabei können Interessierte auf acht Routen, die mit Bussen gefahren werden, drei von 24 Unternehmen der Stadt kennenlernen. Mit dabei sind Firmen wie der Wurst- und Fleischwarenhersteller Meisters, Edding oder die IT-Firma Itelligence. Im Einladungstext heißt es, dass die Weiterentwicklung einiger Unternehmen auch durch Fachkräftemangel gedämpft wird. Ein Grund für die Betriebe, sich an der Aktion zu beteiligen? Meisters sagt, dass es auch darum gehe, das Unternehmen noch bekannter zu machen. Hauptanliegen sei es aber, Mitarbeiter oder Azubis zu gewinnen. Bautzens Arbeitsagenturchef Thomas Bernd fordert Betriebe auf, bislang ungenutztes Potenzial zu entdecken – darunter sind Menschen mit Behinderungen. Für Langzeitarbeitslose sei die aktuelle Situation eine Chance, schätzt Felix Breitenstein vom Jobcenter Görlitz. Seine Behörde hat 2017 knapp 3850 Hartz-IV-Empfänger in eine Stelle vermittelt. In den ersten vier Monaten dieses Jahres waren es um die 1000. Man könne diese Menschen zuvor auch qualifizieren.