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Willkommen in Ameisenhausen

Im Walderlebniszentrum Leupoldishain steht eine Stadt für Ameisen, wahrscheinlich eine der größten Deutschlands.

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Von Jörg Stock

Sie kamen früh am Morgen, mit Handschuhen und gut abgedichteten Hosenbeinen. Sie bugsierten das noch träge Volk in papierne Säcke. Die kleinen Wesen verteidigten sich zäh mit Säuredunst. Dabei wollten ihre vermeintlichen Feinde ihnen Gutes tun – sie retten vor den Rädern tonnenschwerer Forstmaschinen. Der Umzug wider Willen ist geglückt. Die Evakuierten haben sich eingelebt in ihrer neuen Stadt, genannt Ameisenhausen.

Das Fenster zum Nest: Weil Ameisen rotblind sind, bemerken sie die Öffnung gar nicht. Die Äste führen zu den Röhren Richtung Freiland.
Das Fenster zum Nest: Weil Ameisen rotblind sind, bemerken sie die Öffnung gar nicht. Die Äste führen zu den Röhren Richtung Freiland.
Freude am großen Krabbeln: Thomas Hofmann (20, r.) präsentiert mit Waldpädagoge Wolfram Claus (57) die künstliche Ameisenwohnung im Walderlebniszentrum Leupoldishain. Hofmann hat das Formikarium während seines Ökologischen Jahres beim Forstbezirk Neustadt
Freude am großen Krabbeln: Thomas Hofmann (20, r.) präsentiert mit Waldpädagoge Wolfram Claus (57) die künstliche Ameisenwohnung im Walderlebniszentrum Leupoldishain. Hofmann hat das Formikarium während seines Ökologischen Jahres beim Forstbezirk Neustadt
Transportaufgabe: Diese eingerollte Assel wird als Beute heimgekugelt.
Transportaufgabe: Diese eingerollte Assel wird als Beute heimgekugelt.

Die Sonne brutzelt im Walderlebniszentrum von Leupoldishain bei Königstein. Ameisenwetter. Thomas Hofmann beobachtet den Verkehr auf den Straßen in Ameisenhausen. In dicken Glasröhren, auf eingeschobenen Ästen, wuseln die Ameisen rauf und runter. „Wenn es heiß ist, flitzen sie wie verrückt“, sagt Thomas. Kinder machen sich manchmal einen Spaß daraus, die Zeit zu stoppen. In einer der Röhren ist es aber auffallend ruhig. „Ein infrastrukturelles Problem“, erklärt Thomas Hofmann. Vermutlich ist der Anstieg zu steil. Noch finden die Ameisen nicht alles perfekt, sagt er. „Ein bisschen müssen wir noch mit ihnen verhandeln.“

Thomas Hofmann, 20, stammt aus der Gegend um Frauenstein. Schon als kleines Kind mochte er Insekten. Weberknechte machten ihm keine Angst. Er sprang Grashüpfern nach und mästete Raupen, bis sie sich verpuppten und Schmetterlinge wurden. Später kam das Interesse für den Wald hinzu. So ging er nach dem Abi für ein Ökologisches Jahr zum Forstbezirk Neustadt. Sein Projekt: eine Ameisenbeobachtungsanlage bauen, ein Formikarium.

Krake mit gläsernen Tentakeln

Ende 2014 begann Thomas Hofmann, sich vorzubereiten. Hügel bauende Waldameisen hatten ihn schon länger interessiert. Aber das Fachwissen fehlte ihm. So biss er sich erst einmal durch die Literatur. Dann ging es an die Bauplanung. Anders als bei Formikarien üblich, sollte Hofmanns Anlage kein geschlossenes System sein, sondern viele Verbindungen zur Natur haben. Die Ameisen sollten sich ihre Wege und ihr Futter selber suchen, der Aufwand für Wartung und Pflege sollte klein bleiben.

Das Ergebnis: ein holzverkleideter quadratischer Kasten, jede Seite einen Meter fünfzig breit, Höhe rund ein Meter, mit gläsernem Aufsatz und Dach, beiderseits je drei Laufröhren, die bis zum Boden hinunter reichen, montiert mit Plastemuffen aus dem Sanitärhandwerk. Der Anblick lässt an einen dicken Kraken denken, der seine gläsernen Tentakel ausstreckt.

Anfang Juni kam Leben in die Bude. Thomas Hofmann und andere ehrenamtliche Ameisenschützer evakuierten in Cunnersdorf bei Königstein einen Hügel der Kahlrückigen Waldameise. Das Nest war in einen Waldweg hineingewachsen und lief Gefahr, bei Forstarbeiten zerstört zu werden. In acht Papiersäcken kamen die Tiere samt Nestmaterial, Brut und Eiern nach Leupoldishain. Um eine alte Baumwurzel herum, die Thomas als Nestkern in sein Formikarium gelegt hatte, wurden die Tüten entleert. Würden die Tiere bleiben?

Thomas Hofmann fürchtete, die Ameisen könnten den Kasten samt Nestmaterial verlassen und sich in den Wald absetzen. Er übernachtete im Walderlebnis, um das Treiben der Tiere zu verfolgen. Am ersten Tag trugen sie Eier und Brut an geschützte Stellen. Am nächsten begannen sie schon, den Hügel aufzuschichten. Sie hatten sich fürs Bleiben entschieden.

Heute ist der Hügel rund 70 Zentimeter hoch, deutlich höher, als er am Originalstandort war. Die Ameisen gehen geschäftig ihrer Wege. Die meisten krabbeln hinauf auf die Bäume. Dort melken sie Läuse. Mit dem Honigtau betreiben sie im Nest Mund-zu-Mund-Fütterung. Andere Ameisen schleppen tote Artgenossen oder ungenießbare Beuteteile ins Freie. „Sie sind absolute Hygieneprofis“, sagt Thomas.

Verbissene Transportarbeiter

Besonders imposant sehen die Baustofftransporte aus. Stundenlang zerrt ein Pulk Ameisen ein vier, fünf Zentimeter langes Stöckchen die Glasröhre hinauf. Und wenn das Holz den ganzen Weg wieder hinunterkollert: Die Ameisen fangen von vorne an. „So schnell geben die nicht auf“, sagt Thomas, und es klingt fast ein wenig stolz. Eine Weile wird er nun sein Ameisenhausen nicht mehr sehen. Bis das Forst-Studium anfängt, geht er in die weite Welt – Australien, vielleicht auch Mittelamerika. Er freut sich drauf. Langweilig wird es bestimmt nicht. Und Ameisen gibt’s dort auch.

Das Walderlebniszentrum in Leupoldishain am
Nikolsdorfer Berg ist ständig kostenfrei zugänglich. Wer möchte, kann vor Ort etwas in die Spendendose werfen. www.sachsenforst.de