Von Peter Anderson
Der Doktor kocht. Suppe soll es zum Mittag geben. Die muss fertig werden. Was in den nächsten acht Stunden passiert, kann niemand vorhersagen. Vielleicht ist es deshalb so ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm, die gebraucht wird, um Kraft zu tanken.
Unruhe bringt das Wetter in die Station der DRF-Luftrettung auf dem Dresdner Flughafen. Der Regen, der vor den Fenstern über die Landebahn fegt, ist mit Schnee vermischt. Dem Piloten Ulli – hier duzen sich alle – gefällt das nicht. Mit vollem Namen heißt er Ulrich Michalski und ist 43 Jahre alt. Beim Bundesgrenzschutz hat er das Fliegen gelernt.
In der hohen Hubschrauber-Halle im vorderen Teil der Station steht ein kleiner Funkempfänger. Über ihn kommt der Wetterbericht aus dem Tower des Flughafens herein. Ulli hört konzentriert zu: „Wir können uns anmelden.“
Halb Acht ist es. 7.53 Uhr, mit Sonnenaufgang, beginnt der Dienst für die Dreier-Mannschaft der DRF-Luftrettung. Rettungsassistent Merten Marschallek (39) gibt der Leitstelle Louisenstraße ein Zeichen. Dort wissen die Kollegen jetzt: Die DRF-Station Dresden steht bereit.
Es dauert bis zum zweiten Kaffee, dann wird es ernst. Verdacht auf Herzinfarkt in Rüsseina, einem Dörfchen in der Nähe von Nossen. Ein Rettungswagen ist bereits vor Ort. Die Notärzte allerdings sind alle im Einsatz. Ein Fall für Christopher 38. Die Frühstückstafel wird aufgehoben. Der Hackepeter und die Anti-Pasti wandern in den Kühlschrank. Schnellen Schrittes geht es nach draußen. Den Hubschrauber vom Typ EC 135 hat der Pilot schon vor einer halben Stunde aus der Halle geschoben. Ulli klemmt sich hinter den Steuerknüppel. Zusammen mit Merten geht er die Checkliste durch. Dr. Jaroslaw Pyrc (41) klettert in die Kabine. Viel Platz ist nicht. Beinfreiheit maximal wie in der Holzklasse. Obenrum heißt es, Kopf einziehen, sonst bumst der dicke, weiße Helm an die Decke.
Nur eine Handvoll Minuten dauert es, dann erhebt sich der Hubschrauber in die Luft. Leichter Kerosin-Geruch macht sich breit. Es ruckelt und dröhnt. In Luftlinie geht es nach Südwesten. Die Perspektive von oben verwirrt. Der in Straßenzügen denkende Autofahrer muss umlernen. Schon kommen die Apfelplantagen Krögis ins Blickfeld. Aufgeräumt sieht die Landschaft aus der Vogelperspektive aus. Fein säuberlich sind Äcker, Waldstücken und Wohngebiete abgeteilt. Als hätte ein Geometrie verliebter Riese alles angeordnet.
Rettungsassistent Merten übernimmt während des Fluges die Funktion des Co-Piloten. Mit einer Zusatzausbildung hat er sich fit gemacht für die Fliegerei. Mit Hilfe des Navigationssystems und detaillierter Karten lotst er den Hubschrauber nach Rüsseina. Die Zeit vergeht im Flug. Der gedrungene Baukörper der Kirche Rüsseina kommt in Sicht. An einem kleinen Bauernhof steht der Rettungswagen. Ein freies Feld dahinter bietet sich als Landeplatz an. Nicht einmal 50 Meter sind es bis zum Einsatzort. Jarek, so nennen alle hier den Doktor, zieht ein paar blaue Einweghandschuhe über, schnappt sich seine Einsatztasche. Wieder leichter Laufschritt. Merten folgt. Ulli bleibt zurück. So wie meistens. Nur in Ausnahmefällen begleitet der Pilot Arzt und Sanitäter. In der Sächsischen Schweiz zum Beispiel, wenn Geräte zu einem am Berg Verunfallten mitgeschleppt werden müssen. Dann muss der Hubschrauber allein zurückbleiben. Das Leben der Patienten geht vor.
In Rüsseina ist Ullis Platz bei seinem Hubschrauber. Gaffer gibt es überall. Die Gefahr, die von dem knubbeligen, roten Luftgefährt ausgeht, wird von vielen unterschätzt. Ulli kann ein Lied davon singen. Von einem Radfahrer, der hinten kurz unterhalb des Heckrotors am Hubschrauber lehnte. Unbeobachtet war er herangekommen. Wäre er nicht entdeckt worden, hätte der Heckrotor aus seinem Arm Hackfleisch gemacht.
Drüben im Bauernhof haben Jarek und die Rettungssanitäter inzwischen entschieden. Die Patientin, 70 Jahre alt und schlank, wird mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus Riesa gefahren. Jarek begleitet, falls eine Komplikation auftritt. Ulli spielt den Abholer. Es geht nach Riesa, ohne Patientin. „Das wäre zu viel Stress für die Frau. Wir müssten mehrfach in der Kälte umladen“, sagt Merten.
In Riesa gelandet, heißt es wieder warten. Leichter Regen fällt auf den offenen Landeplatz. Oben in der Station am Flughafen warten warmer Kaffee und Jareks Wurstsuppe. Endlich kommt der Arzt. „War gut, dass wir das gemacht haben. Die Frau kam gleich auf den OP-Tisch“, sagt er. Heimwärts geht der Flug.
In der Station macht die Kaffeemaschine Zicken. Die braune Brühe läuft über. Für eine Fehleranalyse bleibt keine Zeit. In Zinnwald hatte eine behinderte Frau aus Meißen einen epileptischen Anfall. Dringend wird ein Notarzt gebraucht. Der Erzgebirgskamm allerdings hüllt sich in dichten Nebel. Ulli kommt nur bis zu einem verschneiten Parkplatz in Schmiedeberg. Der Rettungswagen aus Dippoldiswalde liest Jarek und Merten auf. Zeit zum Reden.
„Es gibt keine Regeln, an die man sich halten kann“, sagt Ulli. Mal passieren an einem Tag kaum Notfälle. Dann übernimmt der Hubschrauber auch normale Transporte. An anderen Tagen geht der Pieper dagegen hintereinander weg.
Heute ist einer von den Pieper-Tagen. Kaum erhebt sich der Hubschrauber vom Parkplatz an der B170 in Schmiedeberg, wird er nach Klotzsche beordert. In einer Kurzzeitpflege holen Jarek und Merten eine 86-jährige Frau nach Kreislaufzusammenbruch zurück ins Leben. Aus Gohrisch/Sächsische Schweiz meldet die Rettungsleitstelle einen Einjährigen mit Verbrennung. Vor Ort sieht es wesentlich undramatischer aus als die Meldung klingt. Das Kind hat mit den Fingerkuppen auf die Herdplatte getippt. Mittlerweile schläft es. Weiter nach Saida bei Kreischa. Dort ist ein 20-jähriger Dachdecker-Lehrling von einem Gerüst sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Zum ersten und letzten Mal an diesem Tag wird der Hubschrauber für den Transport gebraucht. Der junge Mann darf sich nicht bewegen. Schnell muss festgestellt werden, was er sich gebrochen hat. Behutsam laden ihn die Sanitäter ein. Ab in die Uni.
Im Nordwesten geht langsam die Sonne unter. Hell ist der Landeplatz auf einem der Klinikgebäude ausgeleuchtet. Maßarbeit – Ulli landet genau auf dem Kreuz.
Der letzte Einsatz für heute. Dienstende ist mit Sonnenuntergang. Aus der Suppe zum Mittag ist eine Suppe zum Abend geworden. Den Mohnkuchen fürs Kaffeetrinken gibt es nun gleich nach der Suppe als Dessert.
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