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Abschied vom Doppelhaus – Neustart im Umwelt-Modul

Wie Christine Schneider aus Zittau leben viele plötzlich auf zu großem Raum. Die Geschichte einer mutigen Entscheidung.

Von Martina Hahn & Susanne Plecher
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Ungewohnte Architektur in Zittau: Seit einem Jahr leben Christine Schneider und Olaf Kommol im umweltfreundlichen Modulhaus in einer Wohngemeinschaft zusammen. Sie teilen sich 90 Quadratmeter.
Ungewohnte Architektur in Zittau: Seit einem Jahr leben Christine Schneider und Olaf Kommol im umweltfreundlichen Modulhaus in einer Wohngemeinschaft zusammen. Sie teilen sich 90 Quadratmeter. © Matthias Weber/photoweber.de

Wäre ihre Enkeltochter Valentina nicht zur Welt gekommen – wer weiß, ob Christine Schneider ihr Leben derart gravierend geändert hätte. Wahrscheinlich würde sie noch in ihrer Doppelhaushälfte in Oybin wohnen und jeden Einkauf, jeden Theaterbesuch, jeden Gang zum Arzt mit dem Auto erledigen. „Oybin ist wunderschön, aber dort gibt es nichts mehr. Infrastrukturell ist es eine Wüste“, sagt sie. 22 Jahre hat sie in ihrem Haus im Kurort gewohnt, die Kinder großgezogen, den Garten gepflegt, der an den Hochwald grenzt, den Blick zur Burg genossen. Es war ein schönes, erfülltes Leben. Sie streichelt ihre Erinnerung mit lieben Worten.

Doch dann zogen die Kinder aus, der Mann wurde schwer krank. Sie pflegte ihn, bis er starb. Plötzlich war die 61-Jährige allein mit 125 Quadratmetern Wohnfläche, Keller, Dachboden, Garten, Garage. Auf die Dauer war die Arbeit nicht zu schaffen. „Ich habe Dinge verwaltet, die ich nicht brauche. So ein Quatsch! Dafür sind mir meine Lebenszeit, meine Kraft zu schade. Das will ich nicht mehr“, sagt die promovierte Energiewirtschaftlerin.

40,1 Quadratmeter Wohnfläche nutzt jeder Ostdeutsche im Schnitt. Das ist doppelt so viel wie 1960, hat das Bundesstatistikamt errechnet. In den alten Ländern lebt man auf noch größerem Fuß. Wohnen mehr Menschen in einem Haushalt, nutzen sie die Fläche entsprechend effektiver, weil sie sich nicht nur in Bad, Küche, Wohnzimmer hineinteilen, sondern auch in die Heiz- und Stromkosten. 40,5 Prozent aller Haushalte in Sachsen sind allerdings Singlewohnungen – und die sind mit 55 Quadratmetern Durchschnittsgröße meist größer, als sinnvoll wäre.

Professor Rainer Grießhammer hat lange das Öko-Institut in Freiburg geleitet und die Bundesregierung in Umweltfragen beraten. Dass die Alleinlebenden oft Drei- oder Vierraumwohnungen haben, liege am persönlichen Bedarf nach mehr Raum, am mangelnden Angebot an kleineren Wohnungen und an günstigeren Konditionen für alte Mietverträge, sagt er. Gerade in Ballungsräumen wie Dresden oder Leipzig bleiben viele Ältere auch dann noch in ihren großen Wohnungen, wenn die Kinder ausgezogen sind und der Partner verstorben ist – weil eine kleine Neubauwohnung oft teurer wäre.

Im alten Haus in Oybin wohnt jetzt wieder eine Familie.
Im alten Haus in Oybin wohnt jetzt wieder eine Familie. © Christine Schneider

Als Christine Schneider 2014 Oma wurde, kaufte sie sich ein Wohnmobil, mit dem sie mehrere Wochen bei der jungen Familie in Hamburg blieb. „Das Kind und der begrenzte Wohnraum – das hat was mit mir gemacht. Mir wurde klar, dass ich die Zeit, die ich noch habe, gut nutzen muss im Sinn meiner Kinder und Enkel.“ Was war ihr für die Zukunft wichtig? Kurze Wege, die per Fuß zu bewältigen sind, Gesellschaft gegen die Einsamkeit, ein überschaubarer Pflegeaufwand für Wohnung und Garten und vor allem: „Nicht so viel Krempel!“ Sie mistete rigoros aus, erst den Inhalt der Schränke, dann die Schränke selbst. Sie verschenkte und verkaufte alles, was sie nicht mehr brauchte, am Ende auch das Haus – gegen den Rat der Kinder und Nachbarn. Ein Befreiungsschlag. Wie zum Beweis geht sie zum Schrank, zieht eine Schublade auf und zeigt ihren größten Luxus: Die Lade ist leer. „Ich habe Platz!“, sagt sie fröhlich.

Große Wohnungen sind Umweltkiller, vor allem, wenn sie sich in schlecht sanierten Altbauten befinden und nur von wenigen bewohnt werden. Hauptproblem ist der hohe Energieverbrauch durch Heizen und Warmwassererzeugung. Weil die Energie dafür auch in Sachsen hauptsächlich mit Erdgas und Heizöl erzeugt wird, entfallen 38 Prozent der CO2-Emissionen des privaten Konsums allein auf diese beiden Posten. Zum Vergleich: Lichtquellen sind nur für drei Prozent der Emissionen verantwortlich. „Im Gebäudebestand werden pro Jahr rund 117 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen. Bis 2050 soll die Emission nach der Klimaschutzstrategie der Bundesregierung nahezu klimaneutral sein. Nach dem heutigen Stand wird dieses Ziel nicht erreicht werden“, ist Grießhammer überzeugt. Um es doch noch hinzubekommen, müsste seiner Meinung nach nicht nur ein Passivhausstandard für neue Häuser und eine Sanierungspflicht für Bestandsgebäude her – mit hoher finanzieller Förderung, sondern es müssten auch viel mehr kleine Wohnungen gebaut und große in kleine umgewandelt werden.

Für Christine Schneider wäre eine kleine Mietwohnung nicht die richtige Lösung gewesen. „Mich hat ja die Frage bewegt, wie wir im Dreiländereck künftig leben wollen unter dem Eindruck des Klimawandels, der Überalterung, der fehlenden Kindergeneration, der Einschränkungen im Nahverkehr, des überbordenden Konsums, der drohenden Einsamkeit im Alter und des Pflegenotstandes.“ Sie hat lange nachgedacht. Dann ging alles sehr schnell.

Am 16. Mai 2019 rollten zwei Tieflader auf das Gelände einer ehemaligen Gärtnerei in Zittau. Wie ein großes Dreieck liegt das Bauland zwischen Chopinstraße und den Gleisen der Schmalspurbahn. Die Volksbank hat es gekauft. Auf acht Parzellen sollen hier Häuser entstehen, auf der neunten steht Christine Schneiders Bungalow: Errichtet aus zwei Modulen, 13,5 Meter lang, drei und vier Meter breit, ist er aus nachwachsenden Rohstoffen in Holzständerbauweise aufgebaut worden. Die Planken sind aus Lärchenholz, das Dämmmaterial hat einen blauen Umweltengel. Geheizt wird mittels Wärmetauscher.

Das Haus kommt ohne Boden und Keller aus, dafür hat es breite Türen und keine Schwellen. Auch die Dusche ist behindertengerecht. Leitungen, Fenster – alles war bei der Lieferung schon dabei. Ein Handwerkerteam montierte den Rest. Drei Wochen, nachdem die riesigen Bauklötze per Kran vom Tieflader gehoben worden waren, schlief Christine Schneider zum ersten Mal in ihrem neuen Haus. Pro Quadratmeter hat sie 1.600 Euro dafür gezahlt, zuzüglich Nebenkosten. Das erschlossene Bauland kostete 40 Euro pro Quadratmeter.

Auch Olaf Kommol ist ein alleinstehender Senior. Auf seinen 40 Quadratmetern hat er Küche, Bad mit Dusche, Schlafraum, dazu eine eigene Terrasse.
Auch Olaf Kommol ist ein alleinstehender Senior. Auf seinen 40 Quadratmetern hat er Küche, Bad mit Dusche, Schlafraum, dazu eine eigene Terrasse. © Matthias Weber

Ein Schlüssel klappert an der Tür, ein freundliches „Hallo, bin wieder da“ wird in den Raum geworfen, der gleichzeitig Küche, Wohn- und Gästezimmer ist. Christine Schneiders Mitbewohner ist nach Hause gekommen und hat sich in seinen Bereich zurückgezogen. Auch Olaf Kommol ist ein alleinstehender Senior. Auf seinen 40 Quadratmetern hat er Küche, Bad mit Dusche, Schlafraum, dazu eine eigene Terrasse. Oft aber sitzen die beiden abends am Esstisch zusammen oder im Garten am Feuer und unterhalten sich über das Wohndorf am Stadtrand von Zittau, das hier entstehen soll. Wie sie sich in kleinen nachbarschaftlichen Aktionen Solidarität vorstellen und dabei Klimaschutz und Nachhaltigkeit praktizieren wollen: Einer kocht zu viel und verschenkt das Essen an einen anderen, der eine hat einen Rasenmäher, der andere eine Bohrmaschine, die man sich gegenseitig ausleiht. Will mal ein Paar ins Kino, springt die Nachbarin ein und hütet die Kinder. Hat jemand Lust auf eine Radtour, fragt er am Schwarzen Brett nach, ob ihn jemand begleiten möchte.

„Wir wollen keine Kommune, aber ein schönes, ressourcenschonendes Miteinander über die Generationen hinweg“, sagt Christine Schneider. „Wenn ich schon nicht auf meine Enkel aufpassen kann, bin ich gern für andere Kinder da. Die Familien sind doch alle so zerrissen. Die Jungen wissen nicht, wie sie Arbeit und Kinder ohne Hilfe unter einen Hut bekommen sollen und die Alten sind einsam“, sagt sie.

Die Kinder bleiben weg

Was sie beschreibt, erleben viele Menschen ihrer Generation ähnlich. Die Kinder sind wegen Ausbildung und Arbeit weggezogen. Viele kommen auch trotz der Demografie-Förderprojekte nicht zurück, in die der Freistaat seit 2007 mehr als 9,5 Millionen Euro gesteckt hat und die das Leben im ländlichen Raum bunter und leichter machen sollen. Erst seit 2011 ziehen mehr Menschen nach Sachsen als daraus fort, allerdings hauptsächlich in die Großstädte. Dörfer und Kleinstädte bekommen kaum jemanden ab. Im Landkreis Görlitz gibt es ein Plus an Zuzüglern seit 2015: 1.960 mehr Menschen zogen hin als weg.

Christine Schneiders Kinder sind nicht darunter. Sie führen ein gutes Leben in Berlin und Hamburg. Das Haus in Oybin hat eine junge Familie gekauft. Nun hat das Kinderzimmer wieder einen Sinn. Natürlich ist ihr der Abschied schwergefallen. Sie hat gezweifelt, geheult, sich gefragt, ob sie jetzt nicht den Fehler ihres Lebens macht. Die Nachbarn stimmten ein in den Chor: Wie kannst du nur, das schöne Haus, die vielen Jahre, deine ganzen Erinnerungen. Sie schüttelt den Kopf. Den Satz „Mich trägt man hier nur mit den Füßen zuerst raus“, kann Christine Schneider nicht mehr hören. „Wozu? Wem nützt das irgendetwas?“, fragt sie. Bis ins Stadtzentrum sind es keine 700 Meter, die Neiße liegt zum Greifen nah. „Das ist so herrlich: Ich kann hier alles zu Fuß oder mit dem Rad erreichen und brauche mein Auto kaum noch“, sagt sie. Eine Burg hat die neue Wohnlage nicht zu bieten. Dafür klappern die Störche auf einem stillgelegten Schornstein vis-à-vis. Gelegentlich rumpelt die Schmalspurbahn am Grundstück vorbei. Manchmal steht dann Valentinas kleiner Cousin Emil mit Schaffnermütze und Kelle in Windeln am Fenster und gibt Signale. Und die Lok grüßt zurück.

www.wohnprojekt-zittau.de

Lesetipp: Rainer Grießhammer: #klimaretten. Jetzt Politik und Leben ändern. Lambertus, 258 Seiten, 19,90 Euro.

Fördermöglichkeiten:

  • Die Kreditanstalt für Wiederaufbau fördert energieeffizientes Bauen und Sanieren von Häusern und Wohnungen mit verschiedenen Programmen.

  • Für den Umbau zur altersgerechten, barrierefreien Wohnung oder das Umstellen der Heizungsanlage auf erneuerbare Energien gibt es z.B. günstige Kredite bis zu 50.000 Euro. Zuschüsse gibt es u.a. für die energetische Sanierung, den Einbau von Mini-Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen oder von Brennstoffzellensystemen.

  • Einen Überblick gibt der Verbraucherzentrale Bundesverband auf www.baufoerderer.de

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