Abspecken mit Uhr und App

Der junge Mann, der es mit Eckart von Hirschhausen aufnehmen will, hat einen durchtrainierten Körper und kein Gramm Fett zu viel. Sebastian Wettcke praktiziert Intervallfasten – wie Hirschhausen, Deutschlands bekanntester Arzt. Zwar hat der TV-Doktor die Methode gar nicht erfunden. Doch seit er damit sichtbar zehn Kilo abspecken konnte, haben Millionen Deutsche – hauptsächlich Frauen – Low Carb oder Low Fat gegen die Uhr eingetauscht. 12, 14 oder 16 Stunden nichts essen und dadurch schlanker, gesünder und glücklicher werden. Eine süße Botschaft, die Hirschhausen per App als persönliche Diät verkauft.
Wettcke, nicht einmal halb so alt wie der Promi, hat gemeinsam mit seinem Freund Phillip Wayman auch eine App zum Intervallfasten entwickelt – Fastic. Die jungen Männer gehören zu einer zwiegespaltenen Generation. Auf der einen Seite diejenigen, die wie sie bewusst den Fleischkonsum einschränken, die bio und regional kaufen, ihren Körper pimpen und sich in Marke kleiden. Und auf der anderen Seite jene, die sich vornehmlich von Fastfood und Industriefutter ernähren und damit schon sehr früh den Grundstein für Übergewicht und Folgeerkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme legen.
Etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bringen nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts zu viel Gewicht auf die Waage, mehr als sechs Prozent von ihnen gelten als adipös. Kalorienzählen finden sie uncool. „Da kam mir die Idee, mit einer App das jahrhundertealte Wissen über die positive Wirkung des Fastens für jedermann zugänglich zu machen – spielerisch einfach und ohne große Vorkenntnisse“, sagt Sebastian Wettcke.

Ein Zufall ist das nicht. Denn Wettcke kennt Fastensuppe schon seit der Muttermilch. Seine Eltern betreiben im Schwarzwald ein Fastenhotel, sind ausgebildete Ernährungsberater und Fastenleiter. „Ich habe dort schon recht früh mitgeholfen und war fasziniert, wie glücklich die Gäste am Ende ihres Heilfastens erzählten, dass sie nicht nur abgenommen hätten, sondern sich fitter und gesünder fühlten.“ Mit 14 hat er das erste Mal selbst gefastet. Doch in diesem Alter waren andere Themen wichtiger. „Ich nahm zu und habe deshalb ein paar Jahre später noch mal gefastet – 18 Tage lang. Danach hatte ich mehr Energie, bin auch in der Schule besser geworden.“ Die 13 Kilo weniger am Ende seien auch bei den Mädels gut angekommen. Seitdem fastet Wettcke dauerhaft – und zwar in Intervallen. „Ich höre gegen 19–20 Uhr mit dem Essen auf und beginne erst 16 Stunden später wieder damit“, sagt er.
Dass sich diese Methode recht gut in den Alltag integrieren lässt, erklärt den Erfolg des Intervallfastens. Wissenschaftlich ist inzwischen belegt, dass sich der Stoffwechsel in den langen Essenspausen auf Fettverbrennung umstellt. Vielen Menschen fällt es außerdem leichter, zum Beispiel regelmäßig aufs Frühstück zu verzichten, als radikale Diäten zu machen, die oft zum gefürchteten Jo-Jo-Effekt führen. In Wettckes App lässt sich per Timer die persönliche Fastenzeit einstellen – für Anfänger zwölf Stunden, für Profis bis zu 20 Stunden. Eine Push-Nachricht erinnert, wann man wieder essen darf und wann nicht mehr.
Nach seiner Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann hat Wettcke zunächst online gesunde Lebensmittel vertrieben: hochwertige Öle, Zuckeralternativen, Erdmandeln. Für Fastic ist er von Karlsruhe nach Dresden gezogen. „Hier gibt es eine kleine Start-up-Szene“, sagt er. Die Stadt sei sehr schön und liege perfekt im Dreieck zu Berlin und Leipzig. Im April vorigen Jahres ging die App an den Start. Heute beschäftigt sie 20 Mitarbeiter – Techniker, Grafiker und Texter, die gemeinsam schon mal das Fastenbrechen zelebrieren.
Viele Funktionen erfordern ein Abo
Zwar kostet die Basisversion nichts. Doch die meisten Funktionen erfordern ein Abo. „Uns geht es nicht nur ums Abnehmen, sondern um eine ausgewogenere Ernährung und um das Erlernen von neuen Essgewohnheiten“, sagt Wettcke. „Denn durch die Industrialisierung unseres Essens bewegen wir uns weg von einer natürlichen Ernährung mit frischen, saisonalen und regionalen Produkten.“
Nach Eingabe einiger persönlicher Daten, die laut AGB geschützt sind, funktioniert die App selbsterklärend. Ziele auswählen, Plan erstellen und täglich Lektionen und Aufgaben bekommen: keine zuckerhaltigen Getränke wählen, auch kein Früchtetee, sondern stilles Wasser mit Zitrone, Minze oder Ingwer anreichern. „Schenke Kollegen oder Nachbarn einen Korb mit folgenden Produkten aus deinem Schrank: Süßigkeiten, Chips, Fertiggerichte, Eis“, lautet die erste Tagesaufgabe.
Mit dem Ernährungstracker lassen sich die verzehrten Lebensmittel in grüne, gelbe und rote einteilen. 70 Prozent sollten grüne – nämlich basische Produkte – sein. Dazu gehören die meisten Obst- und Gemüsesorten, Kartoffeln, Samen, Nüsse oder Kräuter. Rote Säurebildner wie verarbeitete, zuckerhaltige und tierische Lebensmittel dürfen möglichst nur noch zehn Prozent auf den Teller.

Über zwei Millionen Mal ist die Fasten-App laut Wettcke bereits heruntergeladen worden, nicht nur in Deutschland, auch in Österreich und der Schweiz. „700 Tonnen haben Nutzer nach eigenen Angaben damit abgenommen“, sagt er. Realistisch seien 0,9 Kilo pro Woche.
Jetzt in der Corona-Zeit beobachten die Entwickler ein gestiegenes Interesse. Viele Menschen sind im Homeoffice, bewegen sich weniger, essen wie gewohnt weiter oder greifen zu Frustgummibärchen und ungesunden Fertigprodukten. Nach einer Online-Umfrage der Berliner Firma Nu3 haben innerhalb weniger Wochen der Ausgangsbeschränkung 24 Prozent der 5.200 Teilnehmer zugenommen – mehr als jeder Zweite davon ein bis drei Kilogramm, jeder Fünfte sogar drei bis fünf Kilo. Vor allem Alleinerziehende und Frauen zwischen 35 und 44 Jahren sind betroffen.
Auch Susi wäre gerne ein paar Kilo „jünger“, wie sie im Chat schreibt. In Whats-app-Gruppen von 8 bis 15 App-Nutzern tauschen sich die Fastenden aus, motivieren und kontrollieren sich gegenseitig. „Esst ihr auch Süßes?“ („Ja, ganz ohne schaffe ich es noch nicht!“) „Was hilft bei euch gegen Heißhunger?“ („Ein Apfel oder Wasser.“) „Habe Kopfschmerzen und bisher kaum abgenommen.“ (Hm, abwarten!)“„Wie viele Schritte hast Du heute geschafft?“ („Leider nur 3.400 – arbeite zu Hause.“)
Aussetzer erlaubt
Das Coaching der Gruppe läuft überwiegend automatisiert nach vorbereiteten Leitfäden. „Meine Eltern helfen da inhaltlich mit“, sagt Sebastian Wettcke. Wer das Intervallfasten mal nicht durchhält, weil es gerade beruflich nicht passt oder er mit Freunden feiern will, kann sich nach sechs disziplinierten Tagen einen „Frosty“ zum Aussetzen verdienen. Dazu gibt’s gesunde Rezepte zum Fastenbrechen, auf Wunsch auch glutenfrei oder vegan. Wettcke: „Für mich ist Balance der Schlüssel zum Erfolg.“ Er selbst esse viel Obst und Gemüse, verbiete sich bei einer Grillparty aber auch nicht ein gutes Stück Fleisch oder mal ein Glas Alkohol. Dazu Joggen an der Elbe und Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht.
Im Dezember haben die beiden Gründer ihre App in Amerika an den Start gebracht. „In den USA sind sogar 70 Prozent der Menschen übergewichtig“, so Wettcke. „Und Fasten wird dort immer populärer.“ So zähle man dort nach nur vier Monaten knapp eine Million App-Nutzer. „Langfristig“, sagt er mit jugendlichem Selbstbewusstsein, wolle man weltweit die Nummer eins werden, wenn es um digitales Intervallfasten geht. Die Konkurrenz von Promi-Arzt Eckart von Hirschhausen fürchte er dabei nicht: „Wer kennt außerhalb von Deutschland schon Hirschhausen?“