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. . . als der Krieg zurück nach Niesky kam

Vor 60 Jahren stürmte die Rote Armee in Richtung Neiße. Zu Vorgeschichte und Auswirkungen desKrieges berichten wir in loser Folge in dieser Serie.

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Von Dr. Peter Sebald

„Heute blicken wir zurück auf das schwärzeste und dunkelste Jahr der Geschichte Nieskys und unserer Gemeine. Der Herr hat es für nötig gehalten, uns einmal wieder ganz zu dem zu machen, was der Name unserer Gemeine besagt, ganz 'niedrig'.“ Dieser Wertung, entnommen dem Jahresbericht der Brüdergemeine für das Jahr 1945, kann man auch im Jahr 2005, mit dem Abstand von 60 Jahren gesehen, zustimmen. Nur werden sich die heutigen Nieskyer, sofern sie nach 1945 geboren sind, kaum etwas darunter vorstellen können. Glücklicherweise sind ihnen die schrecklichen persönlichen Kriegserfahrungen, über die Eltern und Großeltern berichten können, erspart geblieben. Jedoch ist nur mit dem Wissen um den Krieg das Handeln der Menschen in der Nachkriegszeit zu verstehen, wurden doch selbst wir damals zehnjährigen Kinder von den Eindrücken des zerstörten Niesky geprägt.

Gegensätzliche Schilderungen

Wer indes etwas über die Kriegsereignisse in Niesky nachlesen will, findet Niesky jedoch nur in allgemeinen Standardwerken erwähnt. Und zwar in höchst gegensätzlichen Darstellungen, entweder in der deutschen Wehrmachtsgeschichte der „Panzergrenadier-Division Brandenburg“ (Duisburg 1958) oder dem von Max Pilop nach polnischen und sowjetischen Quellen geschriebenen Buch „Die Befreiung der Lausitz. Militärhistorischer Abriss der Kämpfe im Jahre 1945“ (Bautzen 1985).

Die in beiden Büchern bei aufmerksamem Lesen unschwer zu erkennenden Widersprüche waren nicht Anlass für intensivere Nachforschungen über die Kriegsereignisse in Niesky. In speziellen Darstellungen wie „Unsere Heimat. Der Kreis Niesky“ (1982) sind mithin nur allgemeine Passagen zum Kriegsgeschehen enthalten. Die Erkenntnis der Menschen von 1945 „Nie wieder Krieg!“ wurde nicht durch das Wissen um die Brutalität und Eigengesetzlichkeiten eines Krieges ergänzt, was zu einer kritischen Sicht auf beide kriegführenden Seiten geführt hätte.

Erst nach der Wende 1989 konnte eine kritische Darstellung aus dem Blickwinkel der Geschichte unserer Stadt gegeben werden, so 1995 in meiner Artikelserie in der „Sächsischen Zeitung“ sowie in der von Hans-Jürgen Franz in Auftrag der Brüdergemeine Niesky zusammengestellten „Lose Sammlung von Berichten über Niesky sowie dessen nähere und weitere Umgebung während des 2. Weltkrieges und der Nachkriegszeit“. Danach haben Herr W. Voss, W. Pahlen Erinnerungen erzählt bzw. niedergeschrieben und Frau Ohnesorge Kopien von Briefen und Fotos zur Verfügung gestellt. Aber weiterhin sind alle Nieskyer, die über zeitgenössische Dokumente verfügen, oder Zeitzeugen gebeten, zu dieser Suche nach einer realistischen Darstellung beizutragen.

Kriegesende kündigt sich an

Das Kriegsende hatte sich bereits im Winter 1944/45 in Niesky sichtbar angekündigt, namentlich seit dem Beginn der Offensive der Roten Armee am 12. Januar, als sie von der Weichsel bis an die Oder und Neiße vorstieß. In endlosen Trecks zogen zu Fuß mit Karren, Kinder- und Handwagen oder auf Pferdewagen hungernde und frierende Menschen durch die Rothenburger und Bautzener Straße gen Westen.

Die Nieskyer sahen es mit wachsender Unruhe. So schrieb Georg Nischwitz am 19. Februar 1945: „Jeden Moment kann nun für Niesky der Räumungsbefehl kommen. So will ich noch vorher einen letzten Brief von hier loslassen und ihn dann unterwegs irgendwo zur Post geben. Die Post ist schon gestern abgehauen. Es heißt nun Abschied nehmen von Geburtsort, Heim und allen Bekannten, ohne zu wissen, ob, wann und wie man bei einer Rückkehr die Heimat wieder finden wird. Hierin teilen wir das Los von Millionen. Auch durch Niesky sind in den letzten drei Wochen Hunderttausende durchgeschleust worden. Das Elend jammert einen... Jetzt kommen die Nieskyer Einwohner dran.“

Kosaken und Napoleon

Es war nicht das erste Mal, dass feindliche russische Truppen in Niesky einmarschierten. Schon vom März bis Mai 1813 waren Kosakenverbände in Verfolgung der napoleonischen Truppen durch Niesky gezogen. Aber die Brüdergemeine, die damals prinzipiell Militärdienst und Kriege ablehnte, ergab sich nicht passiv in das Kriegsschicksal, und die Menschen verließen ihren Ort nicht. Sie nahmen Verwundete von beiden kriegführenden Parteien im Kirchsaal auf und pflegten sie. Im Gottvertrauen taten sie das in ihren Kräften Stehende, um Niesky und seine Menschen zu schützen, und so konnten sie damals das Fazit ziehen: „Doch der Herr hat wunderbarlich unseren Ort geschützt“ (siehe P. Sebald: „Geschichte von Niesky 1742-1992“, Bd. 1, S.122-126).

Und 1945? Inzwischen war die Brüdergemeinsiedlung Niesky zu einer normalen deutschen Kleinstadt herangewachsen. Unter den rund 7 000 Bürgern gab es demzufolge Nazis und antifaschistisch eingestellte Menschen, letztere wohnten vor allem in den 1929 eingemeindeten Arbeitervororten Neuhof, Neusärichen und Neuödernitz. Nach der Statistik stimmten bei den Reichstagswahlen 1928 in Niesky nur 26 (und 16 in den Vororten) für die Nazis, die SPD erhielt 1 684 Stimmen, die KPD 321, die bürgerlichen Parteien zusammen 1 253. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 war in (Alt)Niesky die NSDAP mit 366 Stimmen schon die stärkste Partei (SPD 289; KPD 48) und auf sieben bürgerliche Partei entfielen 904 Stimmen.

Hoffnung statt Überlegung

Nachdem die Nazis im Januar 1933 die Macht übernommen hatten und einerseits intensive Propaganda, andererseits auch massiven Druck ausübten, erhielt bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 die SPD 1 078 Stimmen und hatte damit (gegenüber 1928) rund 500 Stimmen verloren, aber davon waren bereits zuvor die Hälfte zur KPD gewandert, die mit 550 Stimmen rund 250 Stimmen hinzugewonnen hatte. Die Stimmen für die NSDAP waren auf 1896 gestiegen, weil die überwiegende Mehrheit, die zuvor bürgerliche Parteien gewählt hatte, zu den Nazis übergeschwenkt war.

Aber wer damals die Nazis wählte, ist nicht automatisch als Nazi einzuschätzen; angesichts der Weltwirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit folgten auch viele Nieskyer mehr emotionellen Hoffnungen als kühlen Überlegungen.

Es hatte mithin in Niesky etwa bei der Hälfte der Bevölkerung seit 1933 lautstark bekundete Zustimmung für die Nazis gegeben, die Kriegsvorbereitung der Nazis sorgte auch in den Fabriken von Christoph und Unmack bald wieder für Vollbeschäftigung.