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Als die Ulbersdorfer Panzersperren bauten

Ein Zeitzeuge erinnert sich an die letzten Kriegstage in seinem ehemaligen Heimatort. Für manche war das Ende tragisch.

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Von Klaus Böhme

Ich war gerade sieben Jahre alt, als der Bürgermeister Hüttig die Mutter benachrichtigte, dass mein Vater in Russland gefallen sei. Leider waren es schon mehrere Familien, in denen Trauer herrschte, und wir Kinder wussten längst Bescheid. Vieles bekamen wir vom Krieg aber vorerst nicht mit.

Dann kamen aus den bombengefährdeten Städten des Rheinlandes Kinder ins Dorf, was für uns eher lustig war, wegen des anderen Dialekts. Im Dorf wurden in den Gärten Splittergräben und Unterstände angelegt, und viele Männer und Frauen gingen nach Mittelndorf und bauten an der Hohen Straße Panzersperren. Der Großvater in Sebnitz hörte heimlich Radio London und machte manche geheimnisvolle Andeutung. Fliegeralarm wurde nun im Dorf immer häufiger gegeben, indem auf frei hängende Eisenstücke geklopft wurde, Hitlerjungen gaben mit der Trillerpfeife Entwarnung. Männer, die noch einigermaßen gut zu Fuß waren, wurden als letzte Reserve zum Volkssturm eingezogen.

Von den Gärten am Wurzelweg sahen wir Dresden brennen, und am nächsten Tag fanden wir auf den verschneiten Feldern große Mengen angekohltes Papier. Bei den Bauern im Dorf, deren Söhne im Krieg waren, arbeiteten Kriegsgefangene, zu denen wir Kinder ein gutes Verhältnis hatten. Einmal zog ein ganzer Trupp Gefangener die Hintere Dorfstraße entlang, unter Hartmanns Kirschbäumen machten sie länger Rast. In den letzten Kriegstagen quartierte sich eine Wehrmachtseinheit im Dorf ein, die Offiziere wohnten im Gasthaus Krone. Dort verbrachten sie ihre Zeit damit, die aus Frankreich angehäuften Alkoholvorräte niederzumachen. Sie besorgten sich im Dorf eine Trompete und feierten den nicht mehr zu gewinnenden Krieg. Als die Wehrmacht verschwand, wurde uns geraten, über die Elbe zu flüchten, wegen der Russen. Also wurde fieberhaft gepackt. Wir packten einen Korb, den wir im Keller der Großeltern versteckten. Die Wirtin der Krone packte Porzellan, Säbel und andere wertvolle Dinge zusammen und vergrub diese im Garten am Wurzelweg. Mit dem Notwendigsten auf zwei Leiterwagen zogen wir zum Bahnhof und erwischten gerade noch den letzten Zug in Richtung Elbe. Wir waren sechs Flüchtige ohne Ziel. Die Wirtin mit ihrer Tochter, unsere Mutter mit uns beiden Kindern und ein schlesischer Flüchtlingsjunge.

Auf dem Bahnhof Kohlmühle endete der Transport bereits. In einem kleinen Haus am Bahnhof fanden wir Unterkunft. Mitten in der Nacht waren sie dann da, die fremden Soldaten, die von allen nur Uhren wollten. Unser Flüchtlingsjunge konnte zwar Polnisch, aber er hatte keine Uhr und schlief als Einziger die Nacht durch.

Nachdem wir am nächsten Tag die Linoleumfabrik von Keffel und Müller nach Brauchbarem durchsucht hatten, machten wir uns auf den Weg zurück nach Ulbersdorf. In der Nähe der Buttermilchmühle hatte der Volkssturm unter der Brücke eine Panzersperre errichtet, wir mussten also mit unseren Leiterwagen über den hohen Bahndamm. Der Gastwirt Max Schurz, Hans Kühn und der Rittergutsverwalter Rechenbach hatten, um das Dorf zu retten, in den letzten Kriegstagen eine weiße Fahne gehisst. Sie wurden daraufhin von der SS verhaftet, konnten aber in Mittelndorf auf abenteuerliche Weise fliehen.

Da in Hainersdorf die Straßenbrücke gesprengt war, kamen Teile der polnischen Armee von Neustadt über Krumhermsdorf auf Ulbersdorfer Flur. Hier lagerten sie, begruben ihre Toten und ließen Mengen von Beutegut zurück. Der Großvater fand dort sogar einen Geigenkasten mit Inhalt. Eine motorisierte Einheit suchte den Weg zur Hohen Straße, dabei fuhren sie die Straße am Hutberg bis ins Sebnitztal, wo sie wenden mussten. Es wurde erzählt, dass einer der letzten Volkssturmmänner sie absichtlich falsch geschickt hätte. Der Weg wird noch heute Panzerweg genannt. Die Kolonne fuhr dann durch Ulbersdorf nach Lichtenhain. Viele Ulbersdorfer waren in den Wald geflohen, das Dorf wurde geplündert, auch die vergrabenen Schätze der Kronenwirtin, und es gab einige Vergewaltigungen. Eine verirrte Granate hatte das Dach des Bauernhofs Gnauck leicht beschädigt.

Nach der Kapitulation am 8. Mai gab es im Dorf noch mehrere bedauerliche Ereignisse. Der unbescholtene Max Zirnstein wurde am 10. Mai von polnischen Soldaten abgeführt und am Dorfrand erschossen. Eine Frau W. mit ihrer verheirateten Tochter und deren Säugling wollten sich im Kesselteich ertränken. Das Vorhaben missglückte, nur der Säugling ertrank dabei. Der Kleinbauer Mai erhängte sich, ein Grund wurde nie bekannt. Als nach Monaten die Schule wieder begann, lernten wir als Erstes, dass nicht mehr mit „Heil Hitler“ gegrüßt wird und dass der Treffpunkt der Kinder im Unterdorf nicht mehr Hitlerplatz, sondern einfach Dreieck heißt.

Die Erinnerungen wurden vom Autor aus dem Gedächtnis notiert.