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Als Flüchtling im Müglitztal

Brigitte Mumme kommt aus Schlesien und erlebt das Kriegsende vor 75 Jahren auf Schloss Weesenstein. Sie wohnt noch immer dort.

Von Thomas Morgenroth
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Brigitte Mumme kam 1945 als Kriegsflüchtling auf den Weesenstein. Seit fünfzig Jahren wohnt sie dort in der schönsten Wohnung des Schlosses.
Brigitte Mumme kam 1945 als Kriegsflüchtling auf den Weesenstein. Seit fünfzig Jahren wohnt sie dort in der schönsten Wohnung des Schlosses. © Thomas Morgenroth

Mumme“ schnarrt es aus dem Klingelschild. „Morgenroth“ krächzt es bei Frau Mumme aus der Wechselsprechanlage. Summend öffnet sich die Tür mit der festgestellten Klinke. Gleich dahinter beginnt eine Treppe aus Sandstein. 68 Stufen sind es bis nach oben. Mehrere Absätze teilen den Aufstieg in unterschiedlich steile Etappen. Wer es eilig hat, kommt da schnell außer Atem. Einen Aufzug gibt es nicht.

Eine freundliche Dame öffnet die Tür. „Sehen Sie, ich habe es Ihnen gesagt, es ist gar nicht so leicht. Das mache ich jeden Tag wenigstens einmal. Hoch und runter. Da bleibe ich beweglich.“ Brigitte Mumme wird am 4. Juni 85 Jahre alt und geht am Stock. „Das Knie will nicht mehr“, sagt sie und winkt ab. „Es müsste operiert werden, aber in meinem Alter? Nein.“

Ihre Wohnung will sie trotz aller Beschwernisse auf keinen Fall aufgeben. Wer einmal dort war, wird das gut verstehen. Im Oktober werden es fünfzig Jahre, dass sie mit ihrem Mann Siegfried hier eingezogen ist: In die schönste Wohnung des Schlosses Weesenstein, die sich hinter bis zu 800 Jahre alten Mauern im ersten Querhaus der ehemaligen Burg befindet.

Der runde Erker mit den drei großen Fenstern lässt viel Licht herein, die Räume sind hoch und hell. Und dann dieser Ausblick! „Hier wohnt man schön“, fand auch der Dresdner Schauspieler Rolf Hoppe, als er einst bei der Suche nach seiner Kollegin Renate Blume unverhofft bei Frau Mumme auf dem Teppich stand. Der Künstler genoss die Aussicht auf den Schlosspark, den Durchgang, der die Burg oben mit dem Schloss unten verbindet, den Hof und die mit Schiefer gedeckten Dächer.

Für die Schönheiten des Anwesens hat Brigitte indes keinen Blick, als sie am 14. Februar 1945 mit ihren Eltern Elisabeth und Max Kusber und ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Norbert den kleinen Ort im Müglitztal erreicht. Die aus Kattowitz in Oberschlesien stammende Familie ist seit vier Wochen auf der Flucht vor den Schrecken des Krieges, der sie in Dresden mit unfassbarer Wucht einholt. „Dabei dachte ich, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte“, erinnert sich Brigitte Mumme.

Am 17. Januar 1945 besteigen die Kusbers in Kattowitz ein Auto der Reichsbahn, das Vater Max lenkt, der, wie auch schon sein Vater, Eisenbahner ist. Er soll Unterlagen der Reichsbahndirektion in Sicherheit bringen und nimmt vorsorglich gleich die ganze Familie mit. Die Fahrt endet zunächst nach etwa einhundert Kilometern auf dem Hof eines Verwandten in der Nähe von Oppeln, Brigittes Geburtsort.

Als sich Berichte über die nahende Front verdichten, flüchten Kusbers über das Riesengebirge nach Sachsen. Für die Neunjährige wird die Fahrt durch den Schnee zu einem traumatischen Erlebnis. Viele Menschen sind zu Fuß in Richtung Westen unterwegs, Frauen, Kinder, Greise. Manche überleben die Strapazen und die Kälte nicht. „Ich sah Tote im Straßengraben liegen“, sagt Brigitte Mumme. „Meine Kindheit war mit einem Schlag zu Ende.“

Die Familie Kusber um 1942 in Kattowitz: Vater Max, Mutter Elisabeth und die Kinder Norbert und Brigitte. In Weesenstein fanden sie 1945 eine neue Heimat.
Die Familie Kusber um 1942 in Kattowitz: Vater Max, Mutter Elisabeth und die Kinder Norbert und Brigitte. In Weesenstein fanden sie 1945 eine neue Heimat. © Archiv Brigitte Mumme

In Dresden kommen Kusbers im Stadtteil Leuben bei der Inhaberin eines Textilgeschäfts unter. „Sie gab uns ihr Schlafzimmer. Wir schliefen zu viert im Ehebett“, sagt Brigitte Mumme. Aber die Familie kommt nicht zur Ruhe. Am 13. Februar wird die Stadt bombardiert, sie geht in einem Feuersturm unter. Kusbers suchen im Keller Schutz. „Ich habe geheult und geschrien“, sagt Brigitte Mumme. Noch heute duckt sie sich unwillkürlich, wenn sich Flugzeuge mit brummenden Motoren nähern. „Dann habe ich Angst.“

Die Familie überlebt das Inferno. Das Haus bleibt unversehrt. Gegenüber aber brennt die Fabrik für Fettstoffe, und die Schule scheint beschädigt zu sein. „Das fand ich damals gut, so naiv wie ich war“, sagt Brigitte Mumme. „Ich wollte da sowieso nie wieder hin, als Flüchtling hatte ich es ziemlich schwer.“ Zeit zum Nachdenken bleibt nicht. Vater Max treibt zur Eile, er will aus der brennenden Stadt raus. Ein kleiner Konvoi mit Transportern bildet sich, der an der Elbe entlang flussaufwärts zunächst bis zur Kunstseide Pirna fährt. Max Kusber kennt sich nicht aus, er biegt irgendwo ab, um die Stadt zu umfahren.

„Wir sind schließlich über Burkhardswalde nach Weesenstein gekommen“, sagt Brigitte Mumme. Das Schloss erscheint der Familie wie ein friedlicher Fels in der kriegerischen Brandung. „Wir dachten, so ein altes großes Ding, da wird es doch ein Zimmer für uns geben.“ Es gibt tatsächlich eins, obwohl Kusbers nicht die ersten Flüchtlinge sind, die im Müglitztal Schutz suchen. Frau Wohlrab nimmt die Familie in ihrer Wohnung im Torhaus auf.

Als die ersten Panzer der Roten Armee am 8. Mai 1945 nachts durch Weesenstein rollen, ist Brigittes Vater weit weg, in Mährisch-Ostrau, um das Dienstfahrzeug abzugeben. Ordnung muss sein, auch wenn die ganze Welt zusammenbricht. Das Mädchen beobachtet, wie sich ein SS-Mann mit schwerem Geschütz vor dem Schloss verschanzt, um die heranrückenden Sowjetsoldaten aufzuhalten. Andere Augenzeugen berichten von zwanzig SS-Leuten mit Panzerfäusten und Gewehren. Gerüchte machen die Runde, dass das Schloss gesprengt werden soll. Da hängen die Bewohner weiße Laken aus den Turmfenstern und sorgen für eine friedliche Übergabe.

„Der erste Russe, den ich traf, hatte keine Uniform an“, sagt Brigitte Mumme. „Er kam mit seinem Molotow-Motorrad den Berg hoch und wollte Benzin.“ Brigitte muss ihn wie einen Außerirdischen angestarrt haben, dabei sah er so aus wie alle anderen Menschen, die sie kannte. Gerade das aber verblüffte sie total. „Ich hatte noch nie zuvor einen Russen gesehen. Ich dachte immer, die heißen so, weil sie schwarz sind wie Ruß“, erzählt sie und lacht. Von diesem Moment an habe sie keine Angst mehr vor den fremden Soldaten gehabt.

Ein ukrainischer Offizier, mit dem sich die Mutter, die polnisch spricht, gut verständigen kann, wird Brigittes Freund. „Er war vor dem Krieg Oberlehrer in Kiew. Er saß mit seinem Maschinengewehr auf der Mauer und erzählte mir, dass er zu Hause auch so ein Mädchen hätte wie mich.“ Sie und die anderen Kinder im Schloss bekommen oft von den Süßigkeiten ab, die ein Lebensmittelhändler in großen Mengen im Vorschloss eingelagert hatte. Besonders dann, wenn sie helfen, Bücher zu verladen, die stapelweise auf geschlossenen Lastkraftwagen das Schloss verlassen.

Es werden auch kistenweise Kunstwerke aus Dresdner Museen abtransportiert, die sich seit 1942 auf dem Weesenstein befanden. Allerdings ist die „Sixtinische Madonna“ von Raffael nicht darunter, wie der General der Trophäenkommission vermutet, der am 9, Mai auf dem Weesenstein erscheint und danach fragt. Das Bild findet sich aber schon bald in einem stillgelegten Eisenbahntunnel in Großcotta.

Schloss Weesenstein im Jahr 1946. Vom Park aus ist der Erker zu sehen, der zu Brigitte Mummes Wohnung gehört.
Schloss Weesenstein im Jahr 1946. Vom Park aus ist der Erker zu sehen, der zu Brigitte Mummes Wohnung gehört. © Schloss Weesenstein

Brigitte Mumme kann sich an ein großes Heerlager im Schlosspark erinnern, bei dem Holzhäuser aufgebaut werden, die innen mit Stoff ausgeschlagen sind. Tatsächlich feiern am 13. Mai sämtliche Truppen aus Köttewitz, Dohna, Falkenhain und Burkhardswalde, mehr als 1.000 Mann, das Stalinfest anlässlich des Sieges über Hitlerdeutschland. Mit reichlich Schnaps und Wein aus den Kellern des Schlosses.

Im September zieht die Familie ins Dorf, in zwei Zimmer unterm Dach im ehemaligen Bahnhotel. „Es regnete rein, wir mussten mit aufgespanntem Regenschirm schlafen“, sagt Brigitte Mumme. Erst 1951 bekommen sie eine richtige Wohnung, in der die Eltern vierzig Jahre lang bleiben. Weesenstein ist ihre neue Heimat geworden. Der Vater, der bis zu seiner Rente auf den Bahnhöfen in Dohna und Pirna arbeitet, stirbt 1986, die Mutter 1992.

Brigitte setzt zunächst die Familientradition fort: Sie wird Eisenbahnerin, bleibt es aber nicht lange. Das hat mit ihrem Mann Siegfried Mumme zu tun, den sie 1955 heiratet. Er ist Feinmechaniker, geht gern wandern oder fährt mit dem Motorrad durch die Gegend. Sie aber muss ständig in Schichten arbeiten, auch nachts, da ist sie öfter dran, weil sie keine Kinder hat. Da hängt Brigitte Mumme zum Ärger ihres Vaters die Uniform der Reichsbahn an den berühmten Nagel, wird Kassiererin auf der Sparkasse in Dohna und wechselt schließlich für die nächsten 31 Jahre in das Lohnbüro des VEB Baustoffe Heidenau.

Nach zehn Jahren in einer Wohnung ohne fließendes Wasser und einem Plumpsklo, das sie sich mit zehn Hausbewohnern teilen müssen, dürfen Brigitte und Siegfried Mumme 1970 in eine neu gebaute Wohnung im Schloss ziehen. Mit Ofenheizung. „Wir haben jeden Winter 100 Zentner Kohlen raufgetragen“, sagt Brigitte Mumme. Erst Mitte der Neunzigerjahre wird eine Heizung eingebaut.

Siegfried Mumme, der sich vierzig Jahre lang ehrenamtlich um die Turmuhr kümmert, stirbt 2009. Seitdem ist Brigitte Mumme allein, Kinder hat sie keine und der Bruder wohnt in Leverkusen. Aber sie kann auf freundliche Menschen im Ort zählen und auf die Mitarbeiter des Schlosses, die immer schauen, ob es ihrer Frau Mumme gut geht und jedes Mal aufs Neue staunen, wie sie die 68 Stufen bis in den Schlosshof und wieder hinauf bewältigt.

In ihrem Wohnzimmer hängt ein Kalender mit Fotos ihrer Verwandten in Kattowitz, das jetzt Katowice heißt und zu Polen gehört. Einmal im Jahr fährt sie dahin. Der Sohn ihres Cousins, der in den Niederlanden arbeitet, nimmt sie im Auto mit.In Schlesien werden mitunter schmerzliche Erinnerungen wach. Brigitte Mumme spricht kaum darüber. Auch nach 75 Jahren sind die Wunden nicht verheilt. „Krieg ist das Furchtbarste, was es gibt“, sagt sie. „Da wird der Mensch zum Tier.“

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