Als Großenhain unter Bäumen begraben war

Großenhain. Am Sonntag, 24. Mai, werden im Stadtgebiet Großenhain um 15.30 Uhr die Sirenen mit einem 60-sekündigen Signal ertönen. Es ist der Zeitpunkt, an dem 2010 der Tornado mit rund 200 km/h über die Region fegte und immenses Unheil anrichtete.
Wer diese Sirenentöne hört und damals dabeigewesen ist, dem werden kalte Schauer über den Rücken rinnen. Heute lösen diese Töne Angst und Vorsicht aus. Damals, an einem sonnigen Pfingstmontag, waren alle arglos. Dass so etwas in Großenhain geschehen könnte, hatte niemand auf dem Schirm.

"Wir waren zum Mittag bei meinen Eltern in der Nähe des Kupferbergs eingeladen", erinnert sich Evelyn Uschner aus Großraschütz. "Wir verabschiedeten uns kurz nach 14 Uhr, ein gemeinsames Kaffeetrinken lehnten wir dankend ab." Die Uschners zog es Richtung Stadtpark. "Meine Gedanken gingen zu den um diese Zeit wunderschön blühenden Rhododendren und Azaleen. Wir hielten in Höhe Auenstraße an, um die Pracht zu besichtigen und ein Foto zu schießen." Es sollte das letzte Mal sein, dass die Uschners den Park in seiner damaligen Üppigkeit sahen.
Schon auf dem Weg nach Hause bemerkten sie die Wolken, die aussahen wie Schneewolken, so Steffen Uschner, Evelyns Mann. "Und das um diese Jahreszeit?" In Großraschütz veranlasste sie der aufkommende Wind zu einem Blick Richtung Süden in den Garten. "Im alten Birnenbaum knackte es, und ein Ast brach ab. Richtung Südosten waren tiefgehende dunkle Wolken zu sehen. Zum Glück verzog sich der Wind rasch."
Doch dann kam die Nachricht von den Eltern am Kupferberg. Sie mussten mit Grausen ansehen, wie der Sturm - es war der Tornado - einen alten Nussbaum entwurzelte und auf den daneben stehenden Wohnanhänger krachen ließ. "Seit über 30 Jahren zierte dieser Baum die Sitzecke. Er war 1976 zu meiner Jugendweihe gepflanzt worden", wird Evelyn Uschner wehmütig. Auch eine Fichte war umgekippt und hatte das Hausdach beschädigt.

Die Uschners schnappten sich Werkzeug und wollten zurückfahren auf den Kupferberg, um zu helfen. Doch der Weg, für den man normalerweise zehn Minuten braucht, dauerte nun rund eine Stunde. "Im ersten Anlauf über die Mülbitzer Straße versperrten Bäume unseren Weg", erinnert sich Evelyn Uschner. Auch durch das Stadtzentrum war kein Durchkommen. "So versuchten wir es über Kleinraschütz und die B 98. Mit Entsetzen sahen wir die Beschädigungen am Wohnblock in der Elsterwerdaer Straße. Auch vom Schornstein der Papierfabrik fehlte ein großes Stück."
Ihren Weg zum Kupferberg konnte das Ehepaar nur am Remonteplatz vorbei fortsetzen. Hier lief ihnen eine Nichte ziemlich verstört in Tanzkleidung über den Weg. Sie hatte mit ihrer Tanzgruppe gerade im Alberttreff geprobt. "Heruntergestürzte Teile von Dächern, Bäumen und anderen Gegenständen der Umgebung und die Schäden an den Gebäuden des Landratsamtes und des Gymnasiums sowie der Turnhalle schockierten uns sehr." Im Fotoalbum blätternd findet Evelyn Uschner Aufnahmen, die sie damals mit einer Wegwerf-Kamera aus dem Auto heraus machte. Eines zeigt hühnereigroße Hagelkörner. "Die Stimmung war beängstigend."

Wie die Uschners im Garten der Eltern, so machten sich viele Großenhainer nach dem Sturm rasch ans Aufräumen der Schäden - soweit das möglich war. Abgedeckte Dächer mussten rasch bedeckt werden, denn es gab noch Regen an jenem Abend. Die Rettungskräfte aber hatten keine Zeit für private Aktionen. Sie sollten die Straßen so schnell es gingt wieder befahrbar machen. Sie mussten sich um Verletzte und am Wohnblock Elsterwerdaer Straße sogar um eine Evakuierung kümmern.
Auch nach zehn Jahren ist der Großenhainer Tornado im Gedächtnis noch immer ein tiefgreifendes Ereignis. Wenn Evelyn Uschner heute in ihrem Fotoalbum blättert, denkt sie daran, wie unwirtlich die ersten Eindrücke danach waren. "Es war gruselig", sagt sie und schaut die Vorher-nachher-Aufnahmen an. "Der Stadtpark war vorher dicht wie ein Urwald, und plötzlich so kahl", erinnert sie sich. Zuerst waren da noch die duftenden Blüten - und dann war alles verwüstet. Ihr Mann hat an jenem Abend noch einmal im Park fotografiert. Auch das Aufschreiben findet die Lehrerin wichtig. Um sich später erinnern zu können und die Erinnerung weiterzugeben.
Die Gedanken der Großenhainerin sind bei dem sechsjährigen Mädchen, das damals durch einen umstürzenden Baum tragisch ums Leben gekommen ist. Evelyn Uschner fühlt mit der Familie, bei der das zehnjährige Gedenken sicher die traurigsten Gefühle auslöst. "Trauer, Verzweiflung - im Nachhinein haben wir damals viele kleine Schicksalsgeschichten erfahren", blickt die Großenhainerin zurück. Rund 50 Menschen wurden verletzt. Aber erfahren hat die Stadt auch viel Hilfe und Unterstützung.
"Viele fleißige Helfer aus ganz Deutschland haben in den folgenden Wochen und Monaten mitgeholfen, unsere schöne Stadt im Grünen wieder mindestens genau so schön zu machen, wie sie einmal war", blickt Evelyn Uschner zurück. Mit der Singgemeinschaft hat sie eine Linde gepflanzt, so wie es viele Baumspenden gab. Das Tornadodenkmal "1,5 Kubikmeter Sturm" ist im Stadtpark entstanden. Die Funkergruppe ihres Mannes Steffen hat es auf eine Erinnerungskarte gebracht, die an viele Orte verschickt wurde. An diesem Denkmal werden sich am Sonntag die Menschen treffen, um das magische Datum noch einmal entstehen zu sehen: 24.05.2010.

Ab 25. Mai wird im Rathaus eine Tornado-Ausstellung gezeigt. Das MDR-Fernsehen berichtet voraussichtlich am 24. Mai im Sachsenspiegel um 19.30 Uhr.