Von Kathrin Kupka-Hahn
Mit großen Augen steht Sonya Meißner vor der Ruine. Erschrocken lässt sie ihren Blick über das eingestürzte Dach und den Schutthaufen neben der Treppe gleiten. Vorsichtig setzt sie Schritt für Schritt durchs hohe Gras, das das Außengelände erobert hat. „Dass der Waldhof inzwischen so schlimm aussieht, hätte ich nicht gedacht“, sagt die 79-Jährige bei ihrem Rundgang um das einst so stattliche Gutshaus in der Waldhofstraße 8. Doch dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Es war einer der schönsten Arbeitsplätze, den ich je hatte“, sagt sie.


Zwischen 1956 und 1961 betreute die Boxdorferin in dem Erholungsheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) Kinder, die hier kurten. „Viele kamen von Bauernhöfen aus dem Brandenburgischen und Mecklenburg-Vorpommern“, erinnert sie sich. Manch eines der Kinder hatte noch nie eine Toilette aus Keramik gesehen, weshalb einige schon mal sagten: „In die schöne weiße Schüssel mache ich nicht.“ Andere wiederum fürchteten sich vor Wasserhähnen und Klospülungen und deren Geräuschen.
Etwa 45 Kinder, zwischen drei und elf Jahre alt, weilten pro Kurdurchgang, der vier Wochen dauerte, in dem Haus. Tagsüber kümmerten sich vier bis sechs Erzieher um die Jungen und Mädchen. Nachts gab es eine Nachtwache. „Und wenn diese krank wurde, mussten wir deren Dienst übernehmen“, erzählt Meißner.
Der Tag mit den Kindern war genau geplant. Er begann morgens um 7 Uhr mit einer Bürstenmassage – getreu dem Motto: „Das Blut muss zum Herzen fließen“ – oder mit Morgengymnastik. „Die machten wir im Freien und nur im Winter in der Veranda oder in den Fluren.“ Besonders gerne erinnert sich Sonya Meißner an das Frühstück – wegen der Roggenschrotbrötchen, die der Wilschdorfer Bäcker Zink eigens für das Kindererholungsheim buk. „Mit Butter und Marmelade haben die wunderbar geschmeckt.“
Vormittags unternahmen sie und ihre Kolleginnen Ausflüge und Wanderungen mit den Jungen und Mädchen, unter anderem nach Radebeul ins Karl-May-Museum, in den Dresdner Zoo oder in die Gemäldegalerie. Die Kinder mochten es jedoch am liebsten, wenn sie bei den Stadtbesichtigungen den Fahrstuhl im Rathausturm benutzen durften oder wenn es auf den Rummel ging. „Besonders die großen Jungs hatten Spaß daran, sich auf die Luftschaukel oder das Karussell zu setzen“, sagt sie.
Das Mittagessen nahmen Erzieher und Kinder auch gemeinsam im Speisesaal ein. „Der war mit Parkett ausgelegt. Und es gab immer Eingemachtes als Kompott“, erzählt Meißner. Schließlich gehörte zu dem Gut ein riesiger Garten, in dem mehrere Obstbäume standen. Die Nachmittage verliefen eher ruhig. Die Kinder verbrachten sie bei schönem Wetter im Freien. Während sich die Mädchen die Zeit mit Handarbeiten oder Lesen vertrieben, spielten die Jungs Fußball. „Es war ein sehr schönes Gelände. Unsere Liegestühle standen auf einem kleinen Plateau, und es gab ein Bad. Da bin ich mit den Kindern gerne reingehuppt“, so die ehemalige Erzieherin.
Kinder badeten im Freien
Auch im Winter war es schön im Kindererholungsheim Waldhof. Die Kinder rodelten vom Haus aus den Hügel hinab bis zur Baumwiese, zur weißen Mauer, die das Gutsgelände noch heute umgibt. Das Weihnachtsfest wurde mit Märchenaufführungen und einem Ausflug in den Wald gefeiert. „Wir wanderten mit unseren kleinen Laternen zu einer Schonung mit Futterkrippe, wo wir den Förster trafen“, erzählt Meißner. Die Kinder legten den Tieren Äpfel, Möhren, Stroh und Heu in die Krippe. „Auch Haferflocken musste die Köchin rausrücken.“
Obwohl die Kinder nur vier Wochen in ihrer Obhut waren, fiel der Erzieherin der Abschied von manchen schwer. „Ein Mädchen habe ich mal bei einem Urlaub in Stralsund besucht, weil ich wissen wollte, wie sie lebt“, erzählt sie. Doch selbst das gute Verhältnis zu den Kindern und das tolle Arbeitsklima konnte nicht über den schlechten Zustand des Gebäudes hinwegtäuschen. Schon damals war der Holzwurm im Dachstuhl, und es regnete rein. „Immer wieder wurde uns versprochen, dass wir ein neues Kinderheim bekommen“, sagt Meißner. Das sollte dort errichtet werden, wo damals die Schweineställe standen. Heute befinden sich mehrere Reihenhäuser dort. Da das Geld für die Sanierung fehlte, wurde das Kindererholungsheim schließlich 1961 geschlossen.
Umso mehr freut sich Sonya Meißner nun, dass ihr Waldhof wieder aufgebaut wird. Der Dresdner Bauträger F & H möchte in dem ehemaligen Gutshaus Eigentumswohnungen errichten. „Nur hätte ich mir gewünscht, dass darin betreutes Wohnen für Senioren entsteht“, sagt sie.