SZ +
Merken

Am Reitsteig hat sich der Borkenkäfer satt gefressen

Revierförster Joachim Thalmann hütet einen Gespensterwald. Oberhalb von Schmilka, am Reitsteig – unweit vom Kleinen Winterberg – ragen rechts und links vom Wanderweg kahle Fichten in die Höhe. Verdorrte Äste und Zweige spießen ineinander.

Teilen
Folgen

Von Hartmut Landgraf (Text)und Mike Jäger (Fotos)

Revierförster Joachim Thalmann hütet einen Gespensterwald. Oberhalb von Schmilka, am Reitsteig – unweit vom Kleinen Winterberg – ragen rechts und links vom Wanderweg kahle Fichten in die Höhe. Verdorrte Äste und Zweige spießen ineinander. In großen Fetzen schält sich die Rinde vom Stamm. Hier und dort gibt es in den Kronen noch ein paar grüne Nadeln, während unten schon alles Leben aus dem Baum gewichen ist. Mit vielen dieser Fichten ist der Borkenkäfer längst fertig.

Thalmann geht hinüber in ein benachbartes Waldstück, wo noch gesunde Bäume wachsen. Er sucht die Stämme nach stecknadelkopfgroßen Bohrlöchern ab, fahndet nach Spuren bräunlichen Holzmehls an der Rinde und an Spinnweben im Gras. Und dann findet er, was er sucht: eine frisch befallene Fichte – noch vor Kraft strotzend und doch schon dem Tod geweiht.

Was wird der Forstmann jetzt tun? Wird er zur Säge greifen, einen Baum opfern, um einen Wald zu retten? Thalmann tut gar nichts. Hier am Reitsteig beobachtet er nur, wie die Natur mit sich selbst kämpft, wie ein vom Menschen gemachtes Waldsystem zusammenbricht – und wie vielleicht schon bald ein neuer Lebenszyklus beginnt. Ein natürlicher Mischwald.

Der Reitsteig ist eine Art ökologisches Forschungsfeld für die Nationalparkverwaltung geworden. „Wo sonst kann man so etwas beobachten?“, fragt Sven Anders, der die Abteilung Staatsforst leitet. Am Reitsteig haust ein Fichtenschädling namens Buchdrucker, ein millimetergroßes, dunkelbraun glänzendes Geschöpf mit einem verheerenden Appetit. Fachleute haben herausgefunden, dass ein einzelnes Buchdrucker-Weibchen in warmen und trockenen Jahren bis zu 100000 Nachkommen erzeugen kann. Sie wissen Bescheid über sein Schwarm- und Brutverhalten, über seine Fressgewohnheiten und seinen Sexuallockstoff. Alles aber wissen die Fachleute noch längst nicht. Am Reitsteig hat der Borkenkäfer mittlerweile ein etwa zehn Hektar großes Areal angegriffen. Dort kann man es jetzt studieren. Doch für manche sieht das, was sich hier abspielt, eher wie eine ökologische Katastrophe aus. Eine forstwirtschaftliche zumindest könnte es leicht werden, wenn die Nationalparkverwaltung dem Treiben des Borkenkäfers nicht anderswo strikt Einhalt gebieten würde.

Wo Wirtschaftswälder an den Nationalpark grenzen, wird der Fichtenschädling bekämpft. Das Netz der Beobachtungsfallen im Schutzgebiet ist so dicht wie sonst nirgendwo in Sachsen, damit notfalls schnell reagiert werden kann. Im Vorjahr schätzte Nationalparkchef Jürgen Stein, dass der Käfer im zurückliegenden Jahrzehnt ungefähr 80 Hektar Wald im Nationalparkgebiet angegriffen habe. Der Nationalpark ist 9300 Hektar groß, auf zirka 4000 Hektar wächst Fichtenwald. Würde er nicht eingedämmt, hätte der Käfer theoretisch noch viel zu fressen. So wurden etwa im Vorjahr wegen der Gefahr einer Massenausbreitung des Insekts an der Raubsteinschlüchte 100 Bäume gefällt – sogar bis in die strengstens geschützte Kernzone hinein.

„Wir können aber nicht überall gegensteuern, sonst wären wir kein richtiger Nationalpark“, sagt Sven Anders. Daran musste sich auch Revierförster Thalmann erst gewöhnen. Früher hat er seine Fichten am Reitsteig mit List und Beharrlichkeit gegen den Borkenkäfer verteidigt. Nun soll er mit ansehen, wie sie sterben. Das ist schwer. Begonnen hat alles vor über drei Jahren nach dem Orkan Kyrill. Am Reitsteig befiel der Käfer damals zwei Dutzend Fichten, die der Sturm umgeworfen hatte. Sie blieben liegen. Im extrem warmen Jahr 2008, als das Insekt die Forstwirte im Freistaat in Atem hielt, ging auch am Reitsteig das große Fressen los.

Plötzlich bückt sich Thalmann ins Unterholz, zeigt auf junges Grün, das sich inmitten toter Stämme einen Weg zum Licht sucht. „Hier kommen Buchen, Ebereschen, Eichen, Fichten“, zählt er auf. „Die hat niemand gepflanzt. Ganz von selbst wird das mal ein super Mischwald.“ Aber so richtig euphorisch klingen die Worte nicht. Tief drinnen sitzt vielleicht eine blutende Försterseele.