Von Sven Siebert, Berlin
Es sind Tage, da wird jede Äußerung zum „Pull-Faktor“, vergrößert jedes Wort die Anziehungskraft. Jede Botschaft, die die Bundesregierung in den vergangenen Tagen ausgesendet hat, hat wahrscheinlich noch mehr Menschen dazu bewogen, sich nach Deutschland aufzumachen. Am Wochenende hat die Regierung versucht, einen Push-Faktor ins Spiel zu bringen, um den immer größer werdenden Zug der Menschen in Richtung Deutschland wenigstens zu bremsen.
Vor nicht mal vier Wochen verkündete Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), man rechne nun mit „bis zu 800 000“ Flüchtlingen. Kurz darauf warben Schleuser in Syrien oder Afghanistan mit dem Argument um neue Kunden, man müsse sich nun beeilen, denn bei 800 000 Flüchtlingen werde Deutschland seine Grenzen schließen.
Barmherzige Mutter
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die schlichte Rechtslage erklärte, es gebe im Grundgesetz „keine Obergrenze“ für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und Asylsuchenden, wurde das in Mittelost als Einladung missverstanden und tausendfach in den Sozialen Netzwerken verbreitet. Und als die Bundeskanzlerin am späten Freitagabend vor elf Tagen entschied, die in Ungarn wartenden oder wandernden Flüchtlinge aufzunehmen, wurde sie endgültig zur Barmherzigen Mutter aller Schutzsuchenden.
Die „humanitäre Entscheidung“ vom 6. September im Angesicht der Bilder der zu Fuß über die Autobahn ziehenden Jungen, Alten und Kinder ist in der vergangenen Woche schon offen kritisiert worden. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat von einem Fehler gesprochen, aber auch Nordrhein-Westfalens Regierungschefin Hannelore Kraft (SPD) hat beschrieben, welche dramatischen Folgen diese Grenzöffnung für die Aufnahmeeinrichtungen ihres Landes hatte. Überall hieß es, Merkels Entscheidung habe die Situation grundlegend verändert.
Merkels Sprecher Steffen Seibert antwortete gestern auf die Frage, ob die Kanzlerin zu der Einschätzung gelangt sei, sie trage selbst Schuld an der Verschärfung der Lage, mit einem schlichten „Nein“. Und natürlich ist die Frage nach der Verantwortung schwer zu beantworten, weil niemand mit Sicherheit sagen kann, dass die neuen Flüchtlinge ohne Merkels Entscheidung nicht trotzdem gekommen wären.
Zweimal am Tag trifft sich seit einigen Wochen im Innenministerium ein Bund-Länder-Koordinierungsstab. Dort werden die erwarteten „Zugangszahlen“ mit den zur Verfügung stehenden „Aufnahmekapazitäten“ in den Erstaufnahmeeinrichtungen abgeglichen. Und spätestens am vergangenen Freitag war klar, es kommen mehr Menschen als untergebracht werden können.
Schon am Freitagabend trat Innenminister de Maizière im Dresdner Taschenberg-Palais vor ein Mikrofon und erklärte, das Tempo der Flüchtlingszuwanderung sei „zu hoch“. Man müsse nun „an einer Entschleunigung arbeiten, damit wir auch in Deutschland nicht an eine Belastungsgrenze stoßen“. Eine Woche zuvor hatte de Maizières Ministerium gegen die Grenzöffnungs-Entscheidung der Kanzlerin deutliche Bedenken geäußert. Mit dem Begriff „Entschleunigung“ gab der Minister nun die Richtung für die Gespräche des Wochenendes vor.
Am Sonnabendmittag rief Seehofer Merkel an, um seinerseits auf die sich zuspitzende Lage in den bayerischen Erstaufnahmeeinrichtungen und am Münchner Hauptbahnhof hinzuweisen, wo der Großteil der Flüchtlinge Deutschland erreicht. Es müsse etwas geschehen, forderte Seehofer, der später erklärte, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen gehe auf „bayerische Initiative“ zurück.
Sonnabend, 17.30 Uhr, hielten die drei Parteivorsitzenden der Koalition, Merkel, Seehofer und SPD-Chef Sigmar Gabriel sowie Innenminister de Maizière und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Telefonschaltkonferenz ab. Grenzkontrollen – zunächst an der bayerisch-österreichischen Grenze – wurden beschlossen. Am Sonntagnachmittag wurde dies durch den zuständigen Minister verkündet.
Die Last nicht alleine tragen
De Maizière erklärte, man wolle wieder „zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise“ kommen. Man müsse Zeit gewinnen – Zeit, in den Aufnahmeeinrichtungen wieder Kapazitäten zu schaffen. De Maizière nannte aber noch ein weiteres Argument: „Das ist auch aus Sicherheitsgründen dringend erforderlich“ – auch wenn es keine gesicherten Erkenntnisse darüber gebe, ob mit den Flüchtlingen auch Terroristen oder ehemalige IS-Kämpfer nach Deutschland kommen. Es dürfe „keinen Generalverdacht“ gegen Flüchtlinge geben, die zu uns kommen, hatte er bereits zuvor erklärt.
Minister de Maizière (CDU) setzt die Grenzkontrollen aber auch als ein Druckmittel in den Verhandlungen mit seinen EU-Kollegen ein. „Wir haben gezeigt, dass Deutschland nicht bereit ist, durch eine faktische Umverteilung alleine die Last zu tragen“, sagte er gestern vor Beginn des Treffens der EU-Innenminister in Brüssel. Es gebe einen Druck der Verhältnisse, unter dem die Staaten nun über den EU-Flüchtlingsplan entscheiden müssten. „Gute Argumente, hoffe ich, bringen am Ende auch ein Ergebnis.“