Von Miriam Schönbach
Es braucht einen Augenblick, um die verschnörkelte Schrift in der Fredegar-Chronik zu entziffern. In Latein verfasste um 630 höchstwahrscheinlich ein Autor unter dem Pseudonym „Fredegarius Scholasticus“ die Weltgeschichte der Franken. Sie enthält Herrscherlisten, erzählt von den Beziehungen des Frankenreichs zu den Ländern Mittel- und Osteuropas und von Eroberungen. Auf diesen Raubzügen gelangten die Westgermanen bis in die heutige Lausitz. In seinen Aufzeichnungen berichtet der Geschichtsschreiber: „Ja sogar Dervanus, der Herzog der Surbier, eines Volkes von sklavischem Stamme, welches seit alters zum fränkischen Reich gehört hatte, fiel zu Samo ab.“
Die Notiz über die „Surbier“ gilt als Ersterwähnung der Sorben. Ein Faksimile-Ausschnitt dieser Seite der Fredegar-Chronik ist die erste Abbildung auf dem neuen Plakat „Sorbische Geschichte in 160 Bildern“. Drei Jahre arbeiteten Kunsthistoriker Hans Mirtschin und der Gestalter Ralf Reimann an dem Projekt in zwei Sprachen. Schon in der ersten Quelle steckt viel Arbeit. Die Autoren wollten erstmals die Originalschrift statt der Übersetzung ins Deutsche aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert zeigen. So begann die Spurensuche jenseits des Oberlausitzer Gefildes.
Surbier und Winedos
Letztlich landeten die Bautzener wieder im einstigen Frankenreich. „In der Nationalbibliothek in Paris fanden wir eine Kopie der Fredegar-Chronik“, sagt Ralf Reimann. Dabei handelt es sich um die Arbeit des französischen Historikers Claude Fauchet. Der Berater Heinrich IV. gilt in seinem Land als einer der bekanntesten Forscher zur Geschichte im Übergang vom Römischen Reich zum mittelalterlichen Frankreich. Er hielt 1579 die damals fast schon 1 000 Jahre alte Geschichtssammlung für die Nachwelt fest und brachte wohl auch den Namen „Fredegar“ als Verfasser ins Spiel.
Mit diesen Erkenntnissen aus dem Internet nehmen die Bautzener Forscher immer wieder Kontakt mit dem Haus der 30 Millionen Bücher und Dokumente in der Hauptstadt an der Seine auf. Eine freundliche Mitarbeiterin der Handschriftenabteilung durchblättert mit Anweisungen aus der Ferne die Kostbarkeit aus dem 16. Jahrhundert. Auf Seite 145 der Chronik IV findet sie die Erwähnung der „Winedos“ und „Winidi“ – Wenden – und zehn Seiten weiter den Namen „Surbier“ für Sorben. „Wir können so die Ersterwähnung der Sorben erstmals im Bild vorstellen“, sagt Ralf Reimann.
Neben der französischen Nationalbibliothek arbeiteten der Bautzener Künstler und Hans Mirtschin mit 60 weiteren Partnern zusammen, darunter mit dem Sorbischen Institut, dem Sorbischen Museum Bautzen, dem Wendischen Museum in Cottbus, dem Kulturhistorischen Museum in Görlitz und dem Museum Bautzen. „Zuerst haben wir die Themen für die einzelnen Jahrhunderte zusammengetragen, danach begaben wir uns auf Motivsuche. Wir haben uns bewusst meist für bislang Ungezeigtes entschieden“, sagt der Gestalter.
Statt des typischen Bilds der Osterreiter ist so nun zum Beispiel auf dem Papier ein Holzstich einer Oster-Prozession an der Kirche Maria Himmelfahrt in Wittichenau von Gustav Müller in Schwarz-Weiß zu sehen. Das Original aus einer Illustrierten ist wahrscheinlich die erste bildliche Darstellung des sorbischen Brauchs. Die Christianisierung der Slawen zeigt die Illustration einer Karte aus Obersachsen aus dem Jahr 1731. Darauf zerstören christliche Soldaten einen heidnischen Tempel und zerschlagen Skulpturen wendischer Götter im Jahr 1000. Im 20. Jahrhundert präsentiert sich ein Stück Rekord-Kohle neben dem Arm eines Braunkohlebaggers.
Ja, auch Bilder können das Auf und Ab einer Geschichte erzählen – genauso wie die Porträts wichtiger Personen. Niklot, der obotritische Slawenfürst, grüßt mit einem Speer vom Schweriner Schloss, Pfarrer Jan Bogum steht dagegen unter anderem mit seiner Übersetzung des Neuen Testaments für die Begründung des niedersorbischen Schrifttums zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Andreas Gärtner, sorbisch Handrij Zahrodnik, wird in Quatitz geboren und ist bekannt als sächsischer Archimedes. Unter August des Starken war er Hofmechanikus. Der Text neben Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer verrät, dass er in einem Brief bekannte, „in sorbischer Sprache aufgewachsen zu sein“. Selbstverständlich fehlen auch der Eierjokel Handrij Køižank als Bautzener Original und Stanislaw Tillich als erster sorbischer Ministerpräsident Sachsens nicht.
Den Bilderreigen begleitet eine Zeitleiste. Sie liefert die Fakten und berichtet von der slawischen Besiedlung um 600, der Unterwerfung der Milzener und Lutizen um 929, dem Zuzug deutscher Siedler zwischen 1100 und 1400, dem Verbot der sorbischen Sprache in Westsachsen und Thüringen 1293 sowie den Kriegen, die das Land der Sorben ereilten. Im 19. und 20. Jahrhundert ist vom Slawenkongress 1848 in Prag, der Gründung der Domowina 1912 und deren Verbot 25 Jahre später zu lesen. Der Zeitstrahl endet 1989 mit der politischen Wende. Finanziert wurde das Projekt durch die Stiftung für das sorbische Volk. Die Domowina brachte es mit auf den Weg. Besonders Jugendlichen soll diese Geschichtsstunde in Bildern das Interesse für die eigenen Wurzeln wecken.
Das letzte Bild des Plakats mit einer Auflage von 1 000 Stück in deutscher Sprache und 500 sorbischen Exemplaren stammt aus dem Jahr 2012. Anlässlich des 100. Jahrestags der Domowina verteilte der Bund Lausitzer Sorben Babybodys unter den Neuankömmlingen in der sorbischsprachigen Lausitz. Der kleine Beno Mìræin Škoda aus Panschwitz-Kuckau lächelt von der Abbildung. Auf dem Stoff seines hellblauen Oberteils steht ganz ohne Schnörkel in großen Buchstaben: „Mój pøichod lìzi we £užicy“. Die Übersetzung ins Deutsche heißt „Meine Zukunft liegt in der Lausitz“.
Die Plakate in deutscher und obersorbischer Sprache gibt es in der Bautzener Tourist-Information, im Sorbischen Museum und in der Sorbischen Kulturinformation, der Smoler’schen Verlagsbuchhandlung und im Witaj-Sprachzentrum für 6,90 Euro.