Ausgeschlossen vom normalen Leben

Bautzen. Wenn Hannes aus der Schule nach Hause kommt, setzt er sich an seinen Computer. Der 15-Jährige schaut sich Videos auf Youtube an – über Flugzeuge, zum Beispiel. Viele Details merkt er sich dann; vor allem die Namen der Modelle. Oder er schaut sich Fotos an von der U-Bahn in Berlin. Mit seiner Oma fährt er manchmal mit der U 55, die Stationen hat er sich gemerkt.
Die Zeit vor dem Computer, die verbringt Hannes dort keineswegs, weil er ein desinteressierter Jugendlicher ist und deshalb nur vor dem Computer hängt. Hannes sitzt vor dem Computer, weil es in der Gegend an Freizeitmöglichkeiten mangelt. Und zwar an solchen für Kinder und Jugendliche mit ganz besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten, wie Hannes. Denn Hannes ist Autist.
Behinderte nicht aussortieren
Auch Moritz, sein großer Bruder, ist Autist. Und auch er verbringt viel Zeit Zuhause, in seinem Zimmer. „Wenn wir mit unseren Jungs nichts unternehmen“, sagt Katja Mager, die Mutter der beiden, „dann sitzen die beiden nur Zuhause“. Denn in Bautzen mangelt es an inklusiven Freizeitangeboten, findet sie. Dabei sieht die EU-Behindertenrechtskonvention vor, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten beanspruchen können. Dazu zählt auch, dass sie möglichst auf Regelschulen gehen sollen – und eben auch an Spiel-, Freizeit- und Sportaktivitäten teilnehmen können. „Inklusion, das bedeutet, Menschen mit Behinderung nicht auszusortieren“, findet Katja Mager. Nachdem sie von der Diagnose ihrer Söhne erfuhr, gründete sie mit anderen Familien den Verein Autismus Oberlausitz in Bautzen. „Inklusion – das heißt, dass jeder dazugehört und mitmachen kann“, sagt sie – dass es eben nicht eine Gruppe für Menschen mit Behinderung gibt und eine für Menschen ohne, sondern eben, dass alle zusammenkommen. Teilhaben. Gemeinsam.
Aber wie gut setzt der Landkreis Bautzen das um? Nicht so gut, wenn man die Behindertenbeauftragte des Landkreises fragt. Es gibt einzelne Veranstaltungen für Menschen mit Behinderung, doch dafür müssen Betroffene oft kämpfen. Da organisiert beispielsweise ein Museum einen Tag für Blinde, doch dabei bleibt es dann. Es gibt einige Sportgruppen in Hoyerswerda, in Bischofswerda und Kamenz. In Bautzen? – Kennt weder der Kreissportbund noch die Behindertenbeauftragte des Landkreises ein solches Projekt. Und nicht nur, was die Suche nach einem Hobby anbelangt, haben es Menschen mit Behinderung insbesondere im Bautzener Raum schwer.
Feste Strukturen nötig
Auch die Suche nach Arbeit ist nicht für jeden leicht. Frederik Liebsch, der eigentlich anders heißt, ist so ein Fall. 21 Jahre ist der Autist alt, hat eine Förderschule besucht, seinen Hauptschulabschluss gemacht und dann eine sogenannte Reha-Ausbildung zum Industrieelektriker absolviert. „Wir schreiben seit einiger Zeit Bewerbungen, waren schon oft beim Arbeitsamt“, sagt seine Mutter Roswitha Liebsch. Auch sie heißt eigentlich anders. „Frederik braucht eine feste Struktur, er kann mit ständig neuen Situationen und hohem Zeitdruck nicht umgehen“, sagt sie. Trotzdem: In den Briefkasten flattern seitdem ständig Angebote für Zeitarbeitsstellen. „Das schafft er nicht“, sagt seine Mutter. „Es kommt mir vor, als würde man seine Bedürfnisse gar nicht verstehen.“
Dabei hat Frederik selbst durchaus Ideen, wie er seinen Arbeitsalltag gerne gestalten möchte. Als er davon erzählt, strahlt er seine Mutter an, legt ihr kurz den Arm um die Schulter. „Ich möchte mit einem Programm arbeiten, mit dem ich 3-D-Modelle bauen kann“, sagt er, und blickt beim Erzählen aus dem Fenster. Weg von den Gesichtern, typisch für Autisten. Viele Menschen, das wäre nichts für ihn – und doch: Ihr Junge kann etwas, davon ist Roswitha Liebsch überzeugt. Eine Firma, die ihn nehmen würde, hat sie trotzdem noch nicht gefunden. „Ich verstehe das nicht“, sagt sie. Menschen mit Behinderung würden so häufig als Störfaktor wahrgenommen, dabei wären sie doch eigentlich eine Bereicherung. Können anderen Menschen zeigen, was es heißt, offen und tolerant zu sein. Zeigen, wie es ist, mit einem freudigen Lächeln durchs Leben zu gehen – „das fehlt Menschen ohne Behinderung oft“, findet Roswitha Liebsch.
Sport im Verein wäre sinnvoll
So empfindet es auch Katja Mager und sieht deshalb eine Chance für den Sport oder andere Vereine, sich gegenüber Menschen mit Behinderung zu öffnen. „Wir haben durch unsere Kinder gelernt, mehr im Moment zu leben“ – etwas, wovon auch andere profitieren könnten. Wenn ihre Kinder einmal in der Woche Sport in einem Verein machen könnten, wäre das schön, findet sie. Oder auch einen Bauernhof besuchen oder an einer Walking-Gruppe teilnehmen. Es wäre auch für die Familie eine kurze Entlastung. Wenn man Hannes fragt, dann scheint die Lösung gar nicht so schwer zu sein. „Ich mag Sport“, sagt er. „und reiten.“ Dann taucht er kurz wieder ab, in seine Welt. Er blickt zum Himmel. „Ein Doppeldecker“, sagt er und lacht.