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Bahn hofft auf neues Leben

Der Verein „Ideenfluss“hat jetzt offiziell denOstflügel des Bahnhofs inErbpacht übernommen.

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Von Frank Seibel

Tische standen schon häufig im „Treffpunkt Gleis 1“. Biertische ursprünglich. Später Tische für Autoren wie Reinhard Lakomy, Hellmuth Karasek, Max Goldt oder Wolfgang Schaller. Politiker haben hier über die Entwicklung der Stadt debattiert. Doch dieser Tisch am Donnerstag war offenkundig etwas Besonderes. Wie ein riesiger Sockel aus dunklem Holz stand er unverrückbar im Rampenlicht, die Arbeitsfläche mit Linoleum überzogen. Alt, ehrwürdig. Was hier geschrieben wird, muss Gewicht und Bestand haben.

An diesem Tisch hat die Deutsche Bahn AG am Donnerstagabend erstmals in ihrer Geschichte einen großen Teil eines Bahnhofes in Erbbaurecht an einen Verein übergeben. Für 25 Jahre ist der Görlitzer Ideenfluss-Verein nun Besitzer des Ostflügels im Bahnhof Görlitz, und das wurde feierlich in aller Öffentlichkeit besiegelt. In den kommenden Jahren soll dieser frühere Mitropa-Saal als Ort für Kulturveranstaltungen ausgebaut werden, eine Gaststätte soll in den früheren Zeitungsladen nebenan ziehen. Und in der ersten Etage ist eine schlichte Herberge mit etwa 30 Betten geplant.

Alles keine Traumtänzerei, sondern ein solides Konzept, lobte der für die Bahnhöfe in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zuständige Bahnmanager Michael Müer. „Wir haben genau überlegt, was wir hier tun.“ Es gehe darum, der Realität ins Auge zu sehen: Viele der insgesamt 6000 Bahnhöfe in Deutschland seien eben nicht mehr der zentrale Verkehrsknotenpunkt in der Stadt. Wichtig seien sie aber nach wie vor – auch für die Bahn. „80 Prozent der Menschen denken beim Stichwort Bahn an Bahnhof“, sagte Müer.

Damit sei „der Bahnhof“ gleichsam ein starkes Markenzeichen. So gesehen, sei es wichtig, Bahnhöfe nicht aussterben zu lassen, sondern sie mit neuem Leben zu erfüllen. „Die Deutsche Bahn AG ist nach den Kirchen der größte Immobilienbesitzer in Deutschland. Wir müssen uns überlegen, wie wir unsere Immobilien erhalten können.“ Müer zeigte sich überzeugt, dass der Vertrag in 25 Jahren um weitere 25 Jahre verlängert werde. Immerhin war der Weg zu diesem Vertrag lang und mühsam. Acht Jahre ist es her, dass erstmals wieder über eine Nutzung des Saales nachgedacht wurde. Damals suchte die Sächsische Zeitung nach einem Ort für regelmäßige Lesungen. Die Bahn-Mitarbeiter vor Ort erkannten die Chance, den seit fast zehn Jahren brachliegenden Mitropa-Saal wieder zu beleben – und gaben ihn wieder zur Nutzung frei. Die Ideengeber Ralph Kunze und Birgit Beltle haben bis heute nicht locker gelassen, den Bahnhof als kulturelles Zentrum aufzubauen.

In seiner Festrede machte der Bankier und Unternehmensberater Martin Hecke deutlich, warum Görlitz gute Chancen habe, doch wieder zu einem zentralen Ort in Europa zu werden. Den größten Teil seiner Waren setze Deutschland innerhalb Europas ab – neuerdings vor allem in die östlichen Mitgliedsländer.

So schien am Ende des Abends gar nicht mehr so unvorstellbar, was Ernst Kretzschmar und Andreas Bednarek zu Beginn in einem Sketch über die 1910er Jahre erzählten. „Wat et hier alles jibt“, sagte Kretzschmar als Berliner Kaufmann über die lebendige Stadt Görlitz, „hätt ick nie jedacht“.