Vom Hals abwärts gelähmt: Noah Berges neues Leben

Er spricht überlegt und offen – über seine Gefühle, seine Lage und den Moment, der sein Leben für immer verändert hat. Noah Berge, ehemaliger Zweitliga-Basketballer der Dresden Titans, ist vom Hals abwärts gelähmt. Am 4. Oktober 2018 wurde der junge Mann in Jena von einer Straßenbahn erfasst. Eine riesige Welle der Solidarität rollte deutschlandweit auf die Familie zu. Knapp 114.000 Euro wurden für den jetzt 22-Jährigen gespendet. Darüber und über sein neues Leben redet er im Interview mit der SZ.
Herr Berge, wie geht es Ihnen jetzt?
Mir geht es eigentlich ganz gut so weit. Ich bin seit Mitte September wieder zu Hause. Ich habe einen elektrischen Rollstuhl, den ich mit dem Kinn steuern kann. Damit bin ich recht selbstständig, kann auf jeden Fall allein fahren. Mit dem Rollstuhl kann ich auch mein Handy und mein MacBook bedienen. Die Geräte sind per Bluetooth miteinander verbunden.
Wie sieht jetzt ein normaler Tagesablauf bei Ihnen aus?
Ich habe viermal die Woche Physio- und Ergotherapie. Da fahre ich auch mit der Bahn hin. Abhängig von den Therapien stehe ich meistens zwischen 9 und 10 Uhr auf. Die Termine dauern zwischen anderthalb und zwei Stunden.
Tun Sie das selbstständig, oder ist Ihre Familie in dieser Situation weiter Ihr wichtigster Begleiter?
Ich habe Assistenten, sozusagen eine 24-Stunden-Betreuung. Die helfen mir bei allen Dingen, die ich nicht allein kann, auch alles Pflegerische. Rein theoretisch würde ich gut allein klarkommen. Ich wohne ja mit Cassy (Freundin Cassandra Klinner, Anm. d. A.) zusammen. Sie nimmt mir viele Dinge ab. Die Assistenten sind auch da, sei es für einen Kaffee, dafür, den Fahrstuhl zu rufen oder die Straßenbahntür zu öffnen. Sie helfen mir zu essen, zu trinken oder auch bei der Toilette. Das ist super viel wert, weil ich damit eigentlich relativ unabhängig von meiner Familie bin. Ich fahre allein draußen rum. Mit dem Rolli kann ich fast alles machen, mich auch hinlegen, weil er variabel verstellbar ist.
Mussten Sie in eine behindertengerechte Wohnung umziehen?
Klar, unsere jetzige Wohnung ist weitestgehend rolligerecht. Zwischen Fahrstuhl und Wohnung ist zwar eine kleine Stufe, zur Wohnung auch. Dafür haben wir Rampen, um das zu überbrücken. Wir haben eine Drei-Zimmer-Wohnung – unser Schlafzimmer, Wohnzimmer und ein Zimmer für die Assistenten, weil die natürlich auch nachts da sein müssen.

Welche pflegerische Unterstützung brauchen Sie?
Beim Duschen oder Waschen natürlich. Dann werde ich aller vier Stunden kathetert, um die Blase zu entleeren, weil ich irgendwie noch nicht bereit bin, dauerhaft einen Schlauch aus mir raushängen zu haben. In meinem Dusch-Rollstuhl ist auf der Sitzfläche ein Loch, damit ich das große Geschäft nicht im Bett verrichten muss. Da helfen die Assistenten auch.
Sie lagen nach Ihrem Unfall vier Tage im Koma, mussten vier Wochen lang künstlich beatmet werden.
Richtig, seit dem 18. April bin ich nicht mehr an der Beatmung. Fünf Tage steckte noch eine Kanüle in meinem Hals, für den Notfall. Ich habe keine vier Wochen benötigte, um von der künstlichen Beatmung eigenständig wegzukommen.
Anfangs konnten Sie nur die Lippen bewegen. Wie sind Sie damit fertig geworden?
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich reagiert habe, als ich realisierte, was passiert ist. Durch die künstliche Beatmung kommt keine Luft an die Stimmbänder. Man kann die Laute nicht wirklich rausbringen. Das ist frustrierend, weil man im Kopf die Vorstellung hat, dass es super deutlich ist, was man sagt. Alles drei-, viermal wiederholen zu müssen, ist nervig. Eigentlich bin ich ein recht kommunikativer Typ, aber irgendwann habe ich angefangen, mich zurückzuziehen.
Sie haben bundesweit riesige Solidarität erfahren. 114.000 Euro an Spenden sind eingegangen – von 1.900 Menschen. Wie nahmen Sie das wahr?
Selbst, wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist das für mich immer noch unvorstellbar, dass so viel Geld zusammengekommen ist. In meinen Augen war und bin ich niemand Besonderes. Ich bin gerührt davon, habe auch jetzt Tränen in den Augen – wirklich krass, dass auch berühmte Personen gespendet haben: Elyas M’Barek hat gespendet, die Rapper Samy Deluxe und Trettmann, Basketball-Nationalspieler Tibor Pleiß und Bundestrainer Henrik Rödl. Ich habe viele junge Leute kennengelernt, denen es ähnlich geht. Das ist mir etwas unangenehm, dass ich finanziell in so eine vergleichsweise angenehme Lage gekommen bin. Ich verstehe nicht, warum gerade ich so eine Aufmerksamkeit erfahren habe.
Wie verwenden Sie das Geld?
Das Geld ist auch in den behindertengerechten Umbau der Wohnung geflossen. Weil wir nicht genau wussten, wie sich das mit Spenden für Behinderte in Deutschland verhält, haben wir in den ersten zwei Monaten die Assistenten aus dem Spendenpool bezahlt und keinen Antrag an das Sozialamt gestellt, dass es diese Kosten übernimmt. Dadurch sind schon einige Zehntausend Euro draufgegangen. Die Zuzahlungen für meine Therapien und Medikamente sind auch nicht wenig. Wir haben versucht, in der Wohnung alles auf „Smart“ auszurichten, sodass ich Lampen und Lichter steuern kann. Da zahlt man eben für eine spezielle Glühbirne nicht vier Euro bei dm, sondern 25 Euro auf Amazon. Sprachsteuerungsgeräte, spezielle Steckdosen oder Heizungsthermostate, die ich ansteuern kann, zählen auch dazu.

Die erste Diagnose lautete: vom Hals abwärts gelähmt. Hat sich das bestätigt?
Es hat sich bestätigt. Man kann halt hoffen, dass irgendetwas wiederkommt. Ich erwarte nichts und freue mich über jeden Schritt Besserung umso mehr. Ich hoffe, dass die Medizin Fortschritte macht.
Ihre Beziehung zu Ihrer Freundin Cassandra Klinner hat sich komplett verändert. Wie gehen Sie miteinander um?
Reden ist wichtiger als alles andere. Klar gibt es manchmal Situationen, in denen sie weint oder ich. Es fällt einem natürlich deutlich schwerer, Liebe zu zeigen, wenn man dafür nur die geistige und verbale Ebene hat. Ich kann nicht einfach mal fix über ihr Gesicht streicheln. Es tut mir genauso weh, dass ich ihr manchmal nicht unbedingt geben kann, was sie gern hätte. Wir reden viel drüber. Aber schlussendlich bin ich für sie der gleiche Noah, der ich vor zwei Jahren war – nur, dass ich mich nicht mehr wirklich bewegen kann.
Beschäftigen Sie sich mit Basketball?
Ich war bisher bei jedem Saisonspiel der Leipzig Lakers. Mein bester Kumpel spielt dort. Basketball war und ist mein Leben. Aber so sehr ich mich freue, dort zu sein und zuzuschauen, genauso weh tut das auch, weil ich dort gern mitspielen würde. Es tut unfassbar weh, aber ich liebe Basketball zu sehr, als dass den Sport einfach aus meinem Leben verbannen könnte.