Von Sven Siebert, Berlin
Na? Gerhard Schröder blickt in die Runde der Journalisten, die gerade eine Stunde auf die Pressekonferenz mit dem Altkanzler gewartet haben. „Ihr seid schon älter geworden…“ Stimmt. Siebeneinhalb Jahre sind vergangenen, seit Schröder das letzte Mal hier auf der Fraktionsebene des Reichstags auftauchte. Seit der Gründung der Großen Koalition im Herbst 2005 ward der Ex-Regierungschef hier nicht mehr gesehen. Und so gilt die Altersdiagnose auch für den seltenen Besucher selbst. Über den Rolling-Stone-Gitarristen Keith Richards hat mal jemand gesagt, er habe ein Gesicht wie eine Knautschlederhandtasche. Für Schröder gilt inzwischen Ähnliches.

Aber ansonsten ist der Bundeskanzler a.D. ganz der Alte. Er knarrt seine Sätze in die Runde, er scherzt über Brioni-Anzüge und Jürgen Trittin, und er spricht über sich selbst und seine Politik mit einem Selbstbewusstsein, das einen mit gewissem Erschauern daran erinnert, welches Macker-Verhalten die deutsche Politik vor gar nicht so langer Zeit geprägt hat. Und natürlich ist die Schröder-Vergangenheit heute noch etwas toller als es die Schröder-Gegenwart vor zehn Jahren war.
Darum geht es: Schröders Regierungserklärung vor zehn Jahren, genauer: am 14. März 2003. Sie trug den Titel „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“ und enthielt neben dem Nein zum Irak-Krieg unter amerikanischer Führung die Eckpunkte der sogenannten „Agenda 2010“.
Die damit verbundenen Veränderungen der Arbeitsverwaltung, Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe („Hartz I bis IV“) führten in der Folge zu Massendemonstrationen, schmerzhaften Auseinandersetzungen in den Fraktionen der rot-grünen Koalition, zum Auftreten der Linkspartei im Westen, zu vorgezogenen Neuwahlen und damit zum vorzeitigen Ende der Regierungszeit Gerhard Schröders. Noch heute vermeidet sogar die schwarz-gelbe Regierung das Wort „Reform“, weil es seit der „Agenda“ als negativ besetzt gilt.
Auf der anderen Seite gilt die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum „ALG II“, der Erleichterung der Leiharbeit und geringfügigen Beschäftigung als wesentliche Ursache für den Abbau der Massenarbeitslosigkeit – und als Basis für Deutschlands wirtschaftliche Robustheit in der Finanz- und Eurokrise.
Offiziell hat SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier Schröder eingeladen, um über das Nein zum Irak-Krieg zu sprechen. Aber Steinmeier – damals Schröders Kanzleramtschef – hat die Agenda-Politik maßgeblich mit konzipiert. Es ist kein Wunder, dass es in Schröders erstem Auftritt vor der Fraktion seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2005 auch und vor allem darum geht.
Als Schröder den großen Fraktionssitzungssaal im Reichstag betritt, ist die Stimmung erwartungsvoll gespannt. Heute sind viel mehr Kameras und Journalisten anwesend als bei normalen Fraktionssitzungen. Steinmeier scherzt Schröder gegenüber, „so ist es eigentlich immer“. Schröder spricht anschließend eine halbe Stunde hinter verschlossenen Türen zu den Genossen. Er rührt sie mit der Erinnerung an die rot-grüne Friedenspolitik, verliert ein paar Bemerkungen zur gegenwärtigen Weltlage und macht im Übrigen das, was er später in einer Pressekonferenz wiederholt.
Bei der Agenda sei es darum gegangen, „die Sozialstaatlichkeit zu erhalten, indem wir die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärken“, sagt Schröder. Und Steinmeier ergänzt, „es war die entscheidende Weichenstellung, dass es unserem Land besser geht als allen seinen Nachbarn“.
Schröder entschärft die Debatte um möglicherweise nötige Korrekturen an der Agenda, mit der sich die SPD seit Jahren herumschlägt, mit der Feststellung, es sei „sinnvoll, über Veränderungen zu reden“, solange man „das Prinzip der Reformen nicht aufgibt“. Und es scheint, als sei die Fraktion, zehn Jahre nach den großen Zerreißproben, bereit, dieser Lesart zu folgen.
Dass die SPD heute ihre Forderungen nach einem Mindestlohn oder nach einer Besserstellung von Leiharbeitern in Beziehung zu den zehn Jahre alten Reformen stellt, ist nur damit zu erklären, dass sich die Partei selbst vom Agenda-Trauma befreien will. Der Auftritt des Altkanzlers dient dieser inneren Versöhnung. Anschließend will sogar eine kategorische Nein-Sagerin von 2003 nichts Böses mehr „an der Richtung der Agenda“ finden.
Und der Auftritt des knapp 69-Jährigen dient natürlich dazu, seine Amtsnachfolgerin alt aussehen zu lassen. Wer verantwortungsvoll Politik mache, müsse bereit sein, „auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen“. Es sei zwar legitim, an die Wiederwahl zu denken – „aber geht man das Risiko nicht ein, unterbleiben die Entscheidungen“. Das ist auf Angela Merkel gemünzt, auch wenn ihr Name nicht fällt.
Und so können all die älter Gewordenen vielleicht nicht denken, dass früher alles besser war. Aber irgendwie gar nicht so schlimm, wie wir es in Erinnerung hatten.
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