Der China-Kenner kritisiert die China-Kritiker

Der Mann ist in China nicht nur bekannter als im eigenen Land, Timo Boll wird dort gleichermaßen verehrt wie gefürchtet. Seit 1997 reist Deutschlands jahrelang bester Tischtennisspieler regelmäßig ins bevölkerungsreichste Land der Welt, das auch die Nummer eins in seiner Sportart darstellt.
Wenn also ein deutscher Sportler etwas über Chinas Umgang mit dem Coronavirus sagen kann, dann er. „Ich habe den Eindruck, als hätten sie die Krise ziemlich gut im Griff“, sagt er mit dem Blick aus der Ferne – aber als einer, der sich auskennt. Der frühere Weltranglisten-Erste und Rekord-Europameister hat einige Kontakte nach China, seine zweite Heimat, die er derzeit noch intensiver pflegt.
Boll bezieht seine Informationen de facto aus erster Hand. „China nutzt natürlich seine Manpower und technischen Möglichkeiten, um die Nachverfolgung bestmöglich hinzubekommen und das Virus einzudämmen“, sagt er. Zudem sei es in Asien bereits vor dieser Krise normal gewesen, eine Maske zu tragen, wenn man erkältet ist.
Maske ist Pflicht in China, und keiner schämt sich
Die Maskenpflicht sei deshalb unheimlich schnell und flächendeckend eingeführt worden – anders als in Deutschland. Vielmehr hatte er hierzulande den Eindruck, die Leute würden sich schämen. „Ich hatte das Gefühl, dass man komisch angeschaut und fast belächelt wird“, sagt er. Inzwischen sei die Akzeptanz der Maske jedoch sehr groß.
Zum Umgang der Chinesen mit der Kritik an der Herkunft des Erregers hält sich der 39-Jährige zurück, an der Debatte will er sich nicht beteiligen. „Ich weiß nicht, ob man verbindlich herausfinden kann, ob es einen Unfall in einem Labor gab oder ob es durch die Natur beziehungsweise über die Tiermärkte auf den Menschen übertragen wurde. Eine solche Schuldzuweisung halte ich schon für überzogen – vor allem, da konkrete Beweise nicht vorgelegt werden können“, sagt Boll.
Stattdessen findet er, dass Deutschland bei der Bewältigung der Pandemie von China lernen kann: „Ich bin ein Technik-Fan und hoffe natürlich, dass die gegebenen Möglichkeiten auch in Deutschland besser genutzt werden.“ Bei der Einführung einer freiwilligen App würde er jedenfalls seine Daten freigeben. Und Boll hat noch einen Vorschlag: „Man sollte auch die Möglichkeiten der Telefonie nutzen.“ Dieses am weitesten verbreitete Kommunikationsmittel sei bislang überhaupt noch nicht in Betracht gezogen worden.

Boll erkennt auch im Tischtennis einige Unterschiede im Umgang mit der Krise: „In China wurde sehr vorausschauend gehandelt. Nach den German Open Ende Januar war das Nationalteam erst lange in Katar und hat sich danach in Macau eingerichtet“, erzählt er. So haben die chinesischen Topspieler weitgehend normal weiter trainieren können. Bei ihm sei das in den ersten fünf bis sechs Wochen nicht der Fall gewesen. „Mittlerweile bin ich auch ins Balltraining eingestiegen, arbeite zwei- bis dreimal pro Woche insbesondere mit meinem Tischtennis-Roboter, da ich als Berufssportler nun eine Erlaubnis habe, die Trainingshalle zu betreten“, sagt er.
Boll weiß natürlich auch, warum in China vieles schneller geht: „Dort wird eine Entscheidung zentral getroffen und sofort umgesetzt.“ In seinem Buch „Mein China“, das 2011 erschienen und 2018 neu aufgelegt worden ist, berichtet er von seinen Erfahrungen im Tischtennis-Wunderland. Beim ersten Besuch sah der damals 16-jährige Boll vor allem die Armut an jeder Straßenecke, Hütten neben dem Gehweg, zusammengeschustert aus einigen Wellblechen. Auf ein paar Quadratmetern lagen fünf Menschen.
Die Informationspolitik ist und bleibt ein Manko
Das hat sich verändert. Boll spricht von modernen Gebäuden, Leuten, die mehr Autos als Räder fahren und sich inzwischen sogar an die Verkehrsregeln halten. Ein offenes Land mit gastfreundlichen, warmherzigen Menschen, die vermehrt Englisch sprechen und auch Kontakte suchen. Inzwischen dürfen in den Tischtennis-Leistungszentren auch ausländische Sportler trainieren. Doch er benennt auch Defizite. Immer wieder fiel ihm auf, dass er in China nicht auf seine Facebook-Seite kam. Die Informationspolitik ist und bleibt ein Manko, auch im Umgang mit Corona.
In Deutschland fühlt sich Boll indes immer auf dem neuesten Stand, mit der Ausnahmesituation kommt er gut klar. „Andere haben es mit Sicherheit viel schwerer, den Alltag zu meistern“, sagt der Familienvater. Sein Verein Borussia Düsseldorf hat die eine Hilfsaktion initiiert, für die sich auch Boll engagiert. „Wir versuchen, bedürftigen Menschen in der Akutphase der Covid-19-Pandemie nachhaltig zu helfen. Das finde ich gut“, sagt er.
Und noch etwas Positives kann der Tischtennisprofi der Zwangspause abgewinnen. „Ich genieße die viele Zeit mit der Familie, sonst bin ich ja bestimmt 200 Tage im Jahr unterwegs. Als Familie hat uns die Zeit jedenfalls nicht geschadet, meinem Tischtennis-Level aber schon“, sagt Boll. In China wird man das sicherlich interessiert zur Kenntnis nehmen.