SZ + Pirna
Merken

Anruf bei einer alten Dame

Isolde Beckert ist ein Pirnaer Urgestein und wird im Oktober 90. Auch sie macht sich jetzt Gedanken um die Welt. Mit einer außergewöhnlichen Schlussfolgerung.

Von Heike Sabel
 3 Min.
Teilen
Folgen
In diesen Tagen gibt es wieder öfter besondere Telefonate.
In diesen Tagen gibt es wieder öfter besondere Telefonate. © Sebastian Gollnow/dpa

Es war einer dieser Anrufe, die man jetzt öfters macht. Sich bei älteren Menschen in der Bekanntschaft erkundigen, wie es ihnen geht, ob sie Hilfe brauchen. Man will sie aufmuntern und plötzlich werden die Rollen getauscht. 

Isolde Beckert lebt zwar schon seit vielen Jahren allein, einsam aber ist sie gar nicht. Sie ist immer unterwegs, reist, nimmt an Veranstaltungen teil, geht spazieren. Derzeit ist das alles eingeschränkt. Ein wichtiger Gang jeden Tag ist geblieben. Gerade will sie die Zeitung aus dem Briefkasten holen, als das Telefon klingelt. 

Isolde Beckert weiß, was los ist in der Welt. Sie liest, hört Radio, schaut fern. So wie wir gelebt haben, das war schön, aber nicht immer gut, sagt sie. Ohne Trauer, ohne Angst, ohne Vorwürfe. Sie stellt es einfach fest. "Ich bin doch Optimistin", sagt sie mit einer leichten Stimme. Keine aufgesetzte gute Laune. So ist sie eben.

Es gibt noch viel zu leben

Ich sehe alles ein, was es jetzt an Einschränkungen gibt, sagt Isolde Beckert. Sie ist vernünftig, bleibt zu Hause, kommt gut mit sich klar. Wenn das alle wären, würden wir das schneller und besser überstehen, sagt sie. Hilfe mag sie nicht so sehr annehmen, alles, was sie noch allein tun kann, ist ein Stück Freiheit und Lebensqualität. Isolde Beckert ist dankbar, dass es ihr gut geht. Das eine Auge macht zwar nicht mehr so mit, es soll operiert werden. Hoffentlich ist das bis Oktober überstanden, sagt sie. 

Dann wird Isolde Beckert 90. Den plant sie schon und ihre zehnte Schandauer Kurwoche im Dezember. Zur Feier 75 Jahre Konfirmation hat sie sich auch gerade angemeldet. "Ich gehe der Zukunft entgegen", sagt sie. Ihre Vergangenheit will sie gern noch einmal erzählen, aufschreiben. Sie war schon mal im Museum, um zu fragen, ob Interesse besteht. Doch da war grad niemand da. "Vielleicht sollte es so sein, vielleicht interessiert das auch niemanden mehr." Zeit- und Augenzeugen werden weniger. Auch von Isolde Beckerts Freundeskreis lebt kaum noch jemand. 

Wenn heute jemand sagt, er fühlt sich jetzt eingesperrt, hat Isolde Beckert andere Bilder vor Augen. Den Bunker in der Pirnaer Viehleite zum Beispiel, in den sie als Kinder bei Angriffen krochen. Vielleicht ist gerade jetzt Zeit, ihr zuzuhören, ihre Geschichte aufzuschreiben. Die Zeit als die Siedlung in der Südvorstadt gebaut wurde, als Krieg war und er vorbei war. 90 Jahre Leben machen, dass Isolde Beckert viel zu erzählen hat. "Und noch viel zu leben", sagt sie gleich hinterher. 

Erlaubte Eitelkeit

Fotografieren will sie nicht lassen. Vier Wochen ohne Friseur und zu wenig frische Luft, sagt sie. Ja, man darf auch mit fast 90 ein bisschen eitel sein. Sich gehen lassen, kommt für sie nicht infrage. "Ach jetzt habe ich mich wohl etwas verquatscht", sagt sie. "Das war jetzt schon das dritte schöne Telefonat heute. Wissen Sie, ich brauche keine Medikamente, diese Anrufe sind meine Medizin." Nur Baldrian hat ihr die Ärztin verordnet. Genommen hat Isolde Beckert noch keinen Tropfen. "Bleiben Sie gesund", sagt sie. Bleiben Sie gesund, Frau Beckert.

Mehr Nachrichten aus Pirna lesen Sie hier. 

Täglichen kostenlosen Newsletter bestellen.