Von Peter Chemnitz
An ihrem ersten Tag als Görlitzerin ist Helga H. Zeuner auf den Hausberg der Stadt gelaufen. Es war der 1. Juni 2000, Christi Himmelfahrt. Die Umzugskisten standen noch gefüllt in der Dreiraumwohnung auf der Elisabethstraße, und sie stand auf der Landeskrone, schaute nach Schlesien und dann auf die Neißestadt. „Mir gehörte plötzlich Görlitz“, sagt Zeuner: „Ich war der Heimat um hunderte Kilometer näher gerückt.“ Deutschlands östlichste Neißestadt sollte für die rüstige und unternehmenslustige Rentnerin der Ausgangspunkt für Reisen in die ehemalige Grafschaft Glatz werden. Hier wurde Helga Hedwig Zeuner heute vor 70 Jahren in dem Dorf Sackisch geboren und verlebte eine behütete Kindheit in einem christlichen Elternhaus. Die Familie war seit Generationen in Sackisch und Umgebung ansässig. Der Bruch im Leben Helga Zeuners begann im Frühjahr 1945.
Russisches Militär rollt in endlosen Kolonnen durch die heile Welt des Glatzer Berglandes. „Wir standen hinter den Gardinen und schauten zu“, erzählt Zeuner. „Wir waren ja naiv und voller Gottvertrauen.“ Den Russen folgen die Polen. „Wir waren der Willkür bewaffneter Miliz ausgesetzt.“ Was sie in den neun Monaten unter polnischer Verwaltung erlebt hat, macht es ihr heute noch immer schwer, mit Polen zu reden. Am 20. März 1946 muss Helga Zeuner mit ihrer Mutter und den vier Geschwistern die Bündel packen. Die ansässige Bevölkerung wird aus Sackisch ausgesiedelt. Von Vertreibung spricht Frau Zeuner. Als Letzte ist sie noch einmal durch das menschenleere Elternhaus gezogen. „Wenn ich im Schlesischen Museum heute den Schlüsselkasten sehe, dann läuft dieser Film ab, höre ich mich selbst den Schlüssel umdrehen.“
Sehnsucht nach der Heimat
Die Zugreise im verplombten Viehwaggon endet in der Westzone. Willkommen sind die Vertriebenen nicht. Die Familie beißt sich durch. Helga Zeuner verbringt schließlich fast 50 Jahre ihres Lebens in Neuwied, arbeitet als Verwaltungsangestellte im öffentlichen Dienst und träumt von ihrer schlesischen Heimat: „Ach, könnte ich nur noch einmal nach Hause fahren.“ 1981 ist es endlich soweit. Nach Monaten ist das Visum eingetroffen, das den Besuch ermöglicht. Doch plötzlich herrscht in Polen Kriegszustand. „Es hieß, die Russen stehen kurz vor Radibor.“ Helga Zeuner fährt trotzdem. Sie findet ein Sackisch vor, das inzwischen zwar nach Bad Kudowa eingemeindet ist, in dem aber anscheinend die Zeit stehen geblieben ist. Sogar eine deutsche Nachbarin trifft sie wieder.
Aber der Besuch ist schmerzhaft, reißt alte Wunden wieder auf. Trotzdem entwickelt Helga Zeuner in diesen Tagen für sich eine Vision: Sie will am Ende ihres Berufslebens zurückkehren nach Schlesien. Die Wiedervereinigung Deutschlands bestärkt sie in diesem Vorhaben. Jährlich fährt sie mindestens einmal nach Sackisch. Eines Tages unterbricht sie auf der Rückfahrt von Liegnitz ihre Zugfahrt. Zwei Stunden schlendert sich durch Görlitz. Sie bittet Leute, sie zu fotografieren. Freut sich an dem so vertrauten Sprachklang der Einheimischen. Sie beschließt, Görlitz zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt zu machen.
Dass der Preis der Wiedervereinigung die endgültige Aufgabe der ehemals deutschen Gebiete jenseits der Neiße bedeutete, hat Zeuner geärgert. „Besonders über Genscher war ich enttäuscht, der hatte als Hallenser seine Heimat ja wieder. Helga Zeuner fühlt sich persönlich ungerecht behandelt. Und bis heute ist sie enttäuscht, dass sich speziell die evangelische Kirche einseitig mit dem polnischen Volk solidarisiert. „Ich verstehe nicht, warum von Niederlassungsfreiheit in Europa die Rede ist, und ich an der Neiße stehen bleiben muss.“
Helga Zeuner hat inzwischen eine Woche in Sackisch gelebt, dann drei Wochen, schließlich sogar sechs. Sie hat mit dem polnischen Pfarrer lange Gespräche geführt, hat drei polnische Familien etwas näher kennen gelernt. „Ich erfahre Verständnis“, sagt sie. Und sie registriert, dass die einst von ihrem Vater gemauerte Mariengrotte heute von Polen zur Marienandacht genutzt wird. Das freut sie. Aber wenn die Polen sie umarmen, dann sträubt sie sich noch. „Soweit bin ich innerlich noch nicht.“ Für den Dialog sei sie offen, aber alles andere wäre geheuchelt.
Rückgabe von Kunstschätzen
Ins Görlitzer Kulturleben hat sich Helga Zeuner schnell eingebracht. Sie hat den Schlesier- und den Rückkehrer-Stammtisch gegründet, sich beim Oberbürgermeister vorgestellt und im Vorstand der Akademie für alte Musik engagiert. Und sie versucht, die Görlitzer für Schlesien zu begeistern. In der SZ hat sie über das Schlesische Musikfest in Hirschberg berichtet: „Ein Hochgenuss der lieblichen Kunst.“ Sie hat in Briefen gegen das Warten an der Grenze gewettert und das ZDF genervt, Görlitz endlich auf der Wetterkarte zu benennen. Zurzeit ringt sie mit der Bahn um eine zweisprachige Beschilderung der Abfahrts- und Ankunftstafeln.
„Ich bin kein passiver Mensch, der nur mit Goldkettchen behangen von Café zu Café zieht.“ Zeuner will die Görlitzer motivieren, sich selbst eine Meinung zu bilden, aktiv zu werden: „Wir dürfen uns nicht einreden lassen, dass wir eh nichts ändern können.“ Jeder einzelne, auch der Langzeitarbeitslose sei gefordert.
Die deutsch-polnischen Abende im Apollo hat sie besucht, auch „wenn es mich immer hin- und hergeschüttelt hat“, um Denkanstöße zu hinterlassen. Wenn sie spürt, dass sich Menschen persönlich mit viel Herz für das Zusammenwachsen engagieren, „dann kann ich viel ertragen“, sagt sie. So lange aber jenseits der Neiße Tafeln von wieder gewonnenen Gebieten sprechen, „kann ich nicht in Partnerschaft leben“. Auch der polnische Nachbar müsse kompromissbereit sein.
Görlitz erlebe sie als eine derart tolerante Stadt. „Das kann nicht mehr gesteigert werden.“ Aber Frau Zeuner vermisst die Gesten von der anderen Seite. Die Rückgabe von Kunstschätzen beispielsweise, die Görlitz gehören. Und sie möchte, „dass auch von drüben etwas getan wird, wovon die keinen Nutzen haben“. Und sie wartet darauf, dass an den deutsch-polnischen Abenden auch einmal die Nachbarn das Schweigen brechen: „Die älteren Polen wissen selbst, wie sie die Deutschen massakriert haben, welche unmenschlichen Grausamkeiten nach der Kapitulation begangen wurden.“
Gitarre und Laute hängen in der Wohnung von Helga Zeuner. Und eine farbige Karte der ehemaligen Grafschaft Glatz neben einem Schlesien-Wappen aus Holz. Erinnerungen an die Heimat, an die Kindheit, an Träume und auch Visionen. „Instrumente waren für mich immer lebensnotwendig“, sagt Helga Zeuner. Sie hätte gern Musik studiert. Es ist aber nichts drausgeworden. Das Leben wollte es anders. Aber der Heimat ist sie wieder näher gerückt: „Ich brauche Ostluft und Musik.“