Bringt uns die Corona-Krise näher?

Zugegeben: Auch in mir löst das Wort „Pandemie“ Fluchtreflexe aus. Auch ich würde am liebsten wegsehen, weghören und die durch das Coronavirus drohende diffuse, kaum fassbare und daher umso beängstigendere Gefahr nur zu gerne kleinstmöglich reden. Aber ich kann nun mal nicht so tun, als sei ich noch ein Kind. Selbst wenn ich manchmal am liebsten wie damals die Augen schließen, den Kopf in den Sand stecken und hoffen würde: Was ich nicht sehen kann, gibt’s nicht. Und ich registriere verblüfft, wie andere jetzt den Helden spielen und sagen: Weil mich diese „Panikmache“ total nervt, ignoriere ich das alles einfach!
Ich finde solche Reaktionen völlig falsch. Aber ich kann sie gut verstehen. Weil sie den gleichen Gefühlen entspringen, die mich ebenfalls bewegen: Sorge, Angst, Hilflosigkeit. Wie sollte man auch keine Hilflosigkeit empfinden, wo sie doch überall zu verspüren ist, sogar unter Politikern und Experten?
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Kein Wunder: Obwohl man immer wieder das Gegenteil hört, ist Corona eben nicht vergleichbar mit der Grippe, die wir alle kennen, die viele von uns schon mal durchlebt haben. Gegen Grippe können wir uns immerhin impfen lassen – gegen Corona noch nicht. Gegen die Grippe oder für deren Heilung sind zumindest erprobte Mittel verfügbar – gegen Corona noch nicht. Zudem ist nach allem, was die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler bislang weiß, die Todesrate wohl vielfach höher als die der Grippe. Und: Das Virus breitet sich unaufhaltsam aus. Alle vier Tage verdoppelt sich die Zahl der Infektionsfälle.
Doch so verständlich der durch Angst und Hilflosigkeit motivierte Wunsch auch ist, von Panikmache zu reden, die Gefahr herunterzuspielen und den Helden zu markieren – er ist weder erwachsen noch aufgeklärt noch verantwortungsvoll. Und lange kein Grund, jetzt mutwillig auf alles zu pfeifen, was wir tatsächlich tun können: besonnen bleiben, aufgeklärt denken, verantwortlich handeln.
Aber ich habe den Eindruck, als würden sich die meisten Deutschen für Letzteres entscheiden. Die Diskussionen über Corona scheinen an Schärfe und Polemik abzunehmen. Auch der Missbrauch der Pandemie zur Hetze gegen Ausländer. Ebenso jene Zeigefinger-Schwingerei, die die Angst vor Corona als Wohlstandssorge diskreditiert, indem sie das Virus mit dem Los der auf Lesbos gestrandeten Flüchtlinge moralisch gegenrechnet.
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Überall werden nun von den entscheidenden Stellen Vorsorgemaßnahmen ergriffen, um das zu tun, was wir tatsächlich tun können: Die Ausbreitung des Virus verzögern und Zeit gewinnen, um wirklich wirksamere Gegenmittel zu entwickeln. Diese Maßnahmen greifen tief in unsere Leben ein. Nein, sie machen es wahrlich nicht schöner. Und so viel ist sicher: Sie werden noch tiefer gehen.
Dennoch kommt es nirgends zu lauten Protesten oder Aufständen. Im Gegenteil akzeptieren wir mehrheitlich das, was getan werden muss. Beißen die Zähne zusammen, tun mit, bleiben besonnen, denken aufgeklärt, handeln verantwortlich. Ich sehe, wie Menschen einander mit einem lächelnden Kopfnicken begrüßen, statt sich die Hand zu geben. Wie sie an der Ladenkasse respektvoll Abstand halten. Wie sich im Netz Gruppen finden, die Älteren und Gehandicapten Hilfe anbieten, etwa beim Einkaufen.
Sicher, Menschen wie ich müssen keine allzu große Angst um unsere Leben haben. Ich bin erst 54 Jahre alt und gesund, mein Immunsystem funktioniert. Mich wird das Virus wohl kaum ernsthafter bedrohen. Aber es geht eben nicht nur um Menschen wie mich. Wirklich ernste Folgen kann das, was wir jetzt tun oder nicht tun, für Schwächere haben. Also für unsere Eltern und Großeltern, für Freunde und Verwandte in Krankenhäusern und Heimen. Was ist, wenn ich infiziert bin, ohne es zu merken oder zu erkranken – und sie anstecke? Wenn diese Gefahr kein Grund ist, sich Kleinrederei, Heldenspiel und trotziges Nichtstun zu verkneifen – was denn dann!
Die Geschichte hat es mehrfach gezeigt, samt der jüngeren sächsischen Vergangenheit: In Zeiten der Not setzt sich immer wieder das Gemeinschaftsgefühl durch, die Hilfsbereitschaft, die Rücksicht, triumphiert das Miteinander über das Gegeneinander. Und es beweist sich, wie aufgeklärt, vernunftfähig und solidarisch unsere Gesellschaft trotz allem ist. Oder besser: sein kann.
Es mag etwas seltsam klingen, aber wenn wir nun, gezwungen durch das Virus und motiviert von unserer Vernunft, körperlich ein wenig auf Distanz zueinander gehen, bedeutet das letztlich: Wir rücken als Gesellschaft enger zusammen. Und können uns gegenseitig im Gefühl bestärken: Wir sind nicht gänzlich hilflos.