Christoph Hein wehrt sich gegen Lügenvorwurf

Von Rainer Kasselt
Bestsellerautor Christoph Hein wird intim. Er schreibt 28 Anekdoten aus der Zeit der deutschen Teilung, des Mauerfalls und den Jahren danach. Es sind persönliche Erlebnisse und Begebenheiten, kurze und kürzeste Geschichten. Sie erzählen von Siegen und Niederlagen, Verrissen und Verboten. Aber auch davon, wie es dem Autor gelang, die Behörden auszutricksen. Hein blickt mit heiterer Gelassenheit zurück, die Demütigungen und Kränkungen sind nicht vergessen, aber in seinem Alter steht er eher spöttisch über den Dingen. Am 8. April wird er 75 Jahre alt.
Der Buchtitel „Gegenlauschangriff“ erinnert an einen „tollkühnen Akt“ Manfred Krugs, der 1976 in seiner Wohnung heimlich ein Gespräch mit hohen SED-Funktionären über die Ausbürgerung von Wolf Biermann mitgeschnitten hatte. Der Untertitel „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ ist eine tiefe Verbeugung vor Heinrich von Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“.
Das Magazin Der Spiegel erhebt diese Woche massive Vorwürfe gegen den Autor. Mit der Wahrheit nehme er es „nicht so genau“, schreibt Volker Weidermann, Kopf des „Literarischen Quartetts“. Stein des Anstoßes ist eine Geschichte, die sich 1993 ereignet haben soll, als der Schriftsteller vom Spiegel um ein Interview gebeten wurde. Drei Herren dieses Blattes, so Hein, kamen in seine Wohnung und interviewten ihn mehrere Stunden lang. Einen dieser Männer kannte er gut, jener „war zu DDR-Zeiten der Korrespondent dieser Zeitschrift für Ostdeutschland gewesen“. Der von Hein geschätzte Journalist eröffnete das Gespräch mit den Worten: „Herr Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Hand.“
Die Erinnerungen der anderen
Möglich, dass der Satz scherzhaft gemeint war. Christoph Hein empfindet ihn als Beleidigung. Zu jener Zeit, so wusste er es von einer Mitarbeiterin der Gauck-Behörde, hatten mehr als 80 Medienvertreter Einsicht in seine Akten verlangt und erhalten. Der Spiegel-Mann, mutmaßt Hein, „war offenbar enttäuscht, weil er in den Akten der Stasi keine Unredlichkeit und keinen Verrat meinerseits entdeckt hatte, kein einziges Schurkenstück“, denn dann hätte ihn der Spiegel zur Titelgeschichte gemacht. Ein paar Tage später erschien das Interview, allerdings ohne den Satz, mit dem das Gespräch begonnen hatte.
Enttäuscht darüber, dass ihn der Journalist offenbar für einen Schurken gehalten hat, kontert Hein nun: „Für mich hatte er sich damit selbst als Schurke entlarvt.“
Die Geschichte lässt den Spiegel nicht ruhen. Die Recherche ergibt: 1993 ist kein Interview mit Hein erschienen, erst 1998. Nicht mit dem Ex-Korrespondenten, sondern mit zwei Redakteuren, keiner der beiden kannte den Autor aus DDR-Zeiten persönlich. Ein reger Mail-Verkehr beginnt. Hein muss einräumen, dass er sich mit dem Zeitpunkt des Gesprächs irrte. Er entschuldigt sich bei Ulrich Schwarz, dem ehemaligen Korrespondenten, er habe mit der Anekdote nichts zu tun. Doch Hein besteht darauf, dass der bewusste Satz gefallen sei. Man habe in den Akten „Ehrenrühriges“ über ihn entdecken wollen.
Der Vorgang, der noch nicht abgeschlossen ist, belastet Hein. Denn der Spiegel-Artikel suggeriert: Wer einmal irrt, dem glaubt man nicht. Vier ganze Seiten widmet das Magazin Heins fehlerhafter Erinnerung. Dem Haus liegt die Relotius-Affäre schwer im Magen. Da passt es wohl gut, auf einen anderen zeigen zu können. Vor Erscheinen des Buches hatte bereits eine weitere Anekdote für Aufregung gesorgt. Die Süddeutsche Zeitung hatte den Text „Mein Leben, leicht überarbeitet“ vorabgedruckt.
Dort beschreibt Christoph Hein, wie er dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck auf dessen Wunsch hin aus seinem Leben erzählte. Und wie er sich vier Jahre später beim Film „Das Leben der Anderen“ die Augen rieb: „Im Kino sitzend hatte ich erstaunt auf mein Leben geschaut. So war es zwar nicht gewesen, aber so war es viel effektvoller.“ Nein, meint Hein, der Film beschreibt nicht die Achtzigerjahre in der DDR, „der Film ist ein Gruselmärchen“, ein „bunt durcheinandergemischter Unsinn“. Diese Äußerung brachte einen Redakteur der FAZ auf die Palme. Er warf Hein Verharmlosung der DDR, Verbreitung von Fake News vor und nannte die relativierende Pose des Autors „frivol“.
Solche Vorwürfe! Ausgerechnet ihm, der als Pfarrerssohn in der DDR nicht zur Oberschule gehen durfte. Ausgerechnet ihm, der 1987 auf dem Schriftstellerkongress der DDR in einer großen Rede die Zensur als „nutzlos, willkürlich, menschenverachtend, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar“ kritisierte. Ausgerechnet ihm, der in Romanen wie „Tangospieler“ oder im Stück „Die Ritter der Tafelrunde“, im Frühjahr 1989 in Dresden uraufgeführt, das Ende des Staates voraussah. Wirklich absurd, diesem Autor eine Verharmlosung des kleinen Landes vorzuhalten.
Auch in den bitteren und bizarren, komischen und tragischen Anekdoten bleibt Christoph Hein seinem Credo treu. Er ist unbequem und obrigkeitskritisch. Damals wie heute. Dem Schwung und Schabernack dieser Erinnerungen ist anzumerken, dass mit dem Chronisten der deutsch-deutschen Verhältnisse weiterhin zu rechnen sein wird.
Christoph Hein: Gegenlauschangriff. Suhrkamp Verlag, 123 Seiten, 14,40 Euro